Medizin und Wahnsinn (87):Leiden für Hochbegabte

Nicht jeder, der sich als Allergiker bezeichnet, leidet tatsächlich. Diese Selbstbeobachter sorgen aber dafür, dass echte Kranke nicht ernst genommen werden.

Werner Bartens

Allergiker sind schon schwer geschlagen. Sie schniefen und triefen fast das ganze Jahr hindurch und müssen aus verquollenen Augen ansehen, wie neue Pflanzen ihnen das Atmen schwermachen. Ambrosia - nicht die Götterspeise aus der griechischen Mythologie ist gemeint, sondern das Beifußblättrige Traubenkraut - ist der stärkste pflanzliche Allergieauslöser in den USA. Das Unkraut hat es über die Po-Ebene und Südfrankreich nach Deutschland geschafft und lehrt hiesige Allergiker das Fürchten.

Allergie, Heuschnupfen, dpa

Einige Menschen vermuten bei jedem Furz, der quersitzt, eine Laktose-Intoleranz - und die echten Allergiker werden skeptisch angeguckt.

(Foto: Foto: dpa)

Obwohl Allergien häufiger vorkommen und die Allergene immer aggressiver Haut und Schleimhäute attackieren, werden Allergiker oft argwöhnisch beäugt. Niemand würde abstreiten, dass es Allergien gibt. Jedes Jahr sterben mehr Menschen an einer Allergie gegen Bienenstiche, als durch Hai-Angriffe ums Leben kommen. Ein anaphylaktischer Schock ist ein lebensbedrohlicher Notfall, keine Frage. Trotzdem - hier in der Redaktion gibt es gefühlt 27 Kollegen, die wahlweise gegen Äpfel, Karotten oder Nüsse allergisch sind. Gerne auch mit einer Kreuzallergie gegen Birkenpollen, Latex und Egoïste von Chanel.

Gerade war einer dieser Kollegen auf meinem gelben Sofa zu Gast und sagte den typischen Satz: "Beschwerden hatte ich noch nie, aber ich weiß, dass ich keine Äpfel vertrage." Trotz vermeintlicher Nussallergie essen diese Leute Nutella, "das ist ja anders verarbeitet". Diese Menschen vermuten bei jedem Furz, der quersitzt, eine Laktose-Intoleranz oder Gluten-Unverträglichkeit oder eine der Fachwelt noch unbekannte Allergie, die bisher nur bei ihnen aufgetreten ist.

An diesen empfindsamen Kollegen und geübten Selbstbeobachtern liegt es, dass Allergiker nicht im besten Ruf stehen, echte Kranke zu sein. Die Sich-den-Daumen-Absäger und die Sich-den-Knöchel-Brecher gelten als härtere Hunde. Über dem Fast-Allergiker schwebt hingegen der Verdacht des Hypochonders wie über Horst Seehofer der des Hallodris.

Trost für wankelmütige Allergiker, die sich ihrer Allergie nicht sicher sind, hält die Zeitschrift Hautfreund bereit. Das Zentralorgan der Neurodermitiker weiß, dass Allergiker oft allergisch sind, weil sie so hochbegabt sind. Um hochbegabt zu sein, erklärt die Autorin, brauche es eine Übererregbarkeit der Sinne, "die sich in der Unverträglichkeit bestimmter Textilien und Nahrungsmittel, Gerüche und Geräusche ausdrücken kann". Zudem steige mit einer Hochbegabung die "Wahrscheinlichkeit emotionaler Intensität und Verletzbarkeit". Wer würde einem solchen Verein nicht gerne beitreten? Als der erstaunliche Zusammenhang in unserer Konferenz verkündet wurde, meldete sich ein Dutzend hochbegabte Allergiker spontan zum Prick-Test ab.

Ärzte haben bisher im Nebel gestochert, jetzt können sie die Ursache vieler Krankheiten endlich erklären. Sensible und Hochbegabte reagieren oft allergisch - klar, und Weichlinge bekommen häufiger Osteoporose und Glasknochenkrankheit. Ist noch niemandem aufgefallen, dass ruppige Zeitgenossen zu Ekzemen neigen, Romantiker zu erweitertem Herzmuskel und Sanftmütige zu Bindegewebsschwäche? Die Schönen und Reichen werden bald in ihren Starnberger Selbsthilfezeitschriften attraktive Leiden in Bestlage für sich reklamieren, die nur bei Menschen mit dominantem Kinn und Geschwulsten in der Geldbörse auftreten.

Natürlich gibt es Eigenschaften, die keiner haben will und für die sich so schnell kein passendes Leiden findet. Analogien sind nur charmant, wenn sie schmeicheln. Für die Geizigen wird es schwierig, für Stinker und Langweiler auch. Den Hartherzigen könnte man einen vernarbten Herzbeutel attestieren. Allerdings hat sich bisher keine Selbsthilfegruppe gefunden, die sich freiwillig ein Leiden für Dumme, Hässliche und Begriffsstutzige zu eigen macht.

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