Medizin und Wahnsinn (66)Das Schweigen der Organe

Lesezeit: 2 Min.

Manche Menschen dröhnen sich zu, um endlich mal ihren Körper zu spüren. Andere leiden unter Dauerzwicken - sei es im Knie oder in der Prostata.

W. Bartens

Gerade kam der Lieblingskollege und klagte mit großem Weh und Ach. Schwerfälliger als sonst ließ er sich auf mein gelbes Sofa plumpsen. Er bewegte sich, als wäre er Anfang 40, dabei ist er höchstens Mitte 30.

Der Kollege dröhnt sich regelmäßig die Birne zu, um zumindest seinen Kopf mal wieder richtig zu fühlen.
Der Kollege dröhnt sich regelmäßig die Birne zu, um zumindest seinen Kopf mal wieder richtig zu fühlen. (Foto: Foto: iStockphotos)

Am Wochenende zuvor war er mit der Frau Snowboarden gewesen, und er sagte hinterher, was alle Menschen sagen, die ihren Bürokörper plötzlich ungewohnten Belastungen ausgesetzt haben: "Ich spüre Muskeln, von denen wusste ich gar nicht, dass ich sie habe." Ich wollte höflich bleiben und fragte ihn nicht, welche Muskeln außer Bizeps, Trizeps und dem großen Popo-Muskel er noch mit Vornamen kennen würde.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer spricht in seinem Werk von der "Verborgenheit der Gesundheit", was primär nicht als Kritik am Gesundheitsfonds gedacht war. Vielmehr soll es bedeuten, dass Gesundheit und Wohlbefinden zumeist nur in einem Zustand unbeschwerter Selbstvergessenheit erlebt werden können.

Wer sich hingegen ständig fragt, ob er gesund ist, wer Apothekenheftchen sammelt und permanent vorsorgen oder etwas anderes für seine Gesundheit tun will, ist auf dem besten Weg, seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Gesundheit ist flüchtig und schwer greifbar wie Glück und Liebe. Zweifelt man daran, ob man gerade glücklich, verliebt oder eben gesund ist, ist man es meist schon nicht mehr. Insofern können wahre Gesundheitsfreunde ihre Muskeln schon mal links liegen lassen.

Das "Schweigen der Organe", wie ein französischer Chirurg Gesundheit umschrieben hat, ist allerdings nicht für alle Menschen gut auszuhalten. Der Lieblingskollege beispielsweise schafft es kaum einmal, seinen Körper nicht zu beachten.

Er braucht gelegentlich diesen dauernden dumpfen Druckschmerz, um sich seiner Existenz zu vergewissern. "Erst da ich sterbe spür ich, dass ich bin", sagt der Held Claudio in Hugo von Hofmannsthals frühem Drama "Der Tor und der Tod".

So weit würde der Kollege zwar noch nicht gehen, aber er dröhnt sich regelmäßig die Birne zu, um zumindest seinen Kopf mal wieder richtig zu fühlen. Erst im Zustand des Katers spürt er, dass da etwas ist. Und wenn der Schädel ausnahmsweise keine Beschwerden meldet, tut ihm dafür das linke Knie furchtbar weh.

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Bekanntschaft mit der Prostata machen

Die meisten Menschen haben keine Wahrnehmung dafür, was sie körperlich so mit sich herumschleppen. Mit der Prostata machen sich die meisten Männer beispielsweise erst vertraut, wenn sie Beschwerden verursacht und der Harnstrahl beim Pieseln die Schuhspitzen benetzt.

Viele Männer wünschen sich die Prostata dann weg, und der naturwissenschaftlich beschlagene Stehpinkler fragt sich, welches evolutionäre Ziel dahinterstecken könnte, wenn im Alter die Vorsteherdrüse zwickt, die Zähne faulig werden und die Gelenke anschwellen. Die Körperteile scheinen alle mit einem anderen Haltbarkeitsdatum versehen zu sein, sonst würden sie ja zur gleichen Zeit schlappmachen.

Ganz weg wäre aber auch nicht gut. Die richtige Dosis ist schwer zu finden. In Sachen Prostata wäre weniger mehr. Denn schälen Chirurgen bei der Operation zu viel weg, geht hinterher nichts mehr. Die Dosisbestimmung, die der Lieblingskollege im Selbstversuch vornimmt, ist dennoch heikel und nicht zu empfehlen.

Er dimmt sein Gehirn mit Alkohol so weit herunter, dass es Sorgen und Schwermut vergisst, vielleicht auch das Schmerzzentrum für das linke Knie ausschaltet, dafür aber andere Leerstellen in seiner grauen Substanz aufweist.

Manche Organe sind wie die Partnerin. Es wäre gut und bestimmt auch gesund, wenn sie mal schweigen würde und in Urlaub ginge, damit man ganz selbstvergessen zu sich selbst finden könnte.

Leider gibt es Urlaub für den Partner noch nicht auf Rezept. Und würde die Partnerin für immer verborgen bleiben, würde schon eine Leerstelle entstehen.

© SZ vom 14.02.2009/mmk - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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