Medizin und Wahnsinn (52):Meine Spritze ist größer

Patienten wollen betrogen werden. Am besten man gibt ihnen rote Dragees und Spritzen direkt ins Blut, denn nur dann wirken sie. Psychologisch.

Werner Bartens

Patienten wollen betrogen werden. Würden sie tatsächlich immer wissen, was Ärzte mit ihnen anstellen, käme mancher Heilungsprozess längst nicht so schnell voran.

Medizin und Wahnsinn (52): Sieht zwar furchterregend aus, bewirkt aber manch psychologisches Wunder.

Sieht zwar furchterregend aus, bewirkt aber manch psychologisches Wunder.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Kürzlich stürmte eine Kollegin in mein Zimmer und war empört. Wütend beschwerte sie sich auf meinem gelben Sofa über ihren Arzt. Sie hatte Schmerzen an der Schulter, an der Hüfte, an den Knien und eigentlich auch die ganze Wirbelsäule entlang. Und am Kopf. Und was hat der Quacksalber - das waren ihre Worte - gemacht?

Ihr geraten, sich zu entspannen und abzuwarten, dann würden die Beschwerden bestimmt bald vergehen. "Nicht mal ein Rezept hat er mir mitgegeben", ereiferte sie sich.

Der Arzt hatte wohl richtigerweise an die alte Medizinerregel gedacht, "Wenn es Patienten an mehr als drei Stellen wehtut, ist es ein Verkehrsunfall oder psychisch".

Dennoch hat er falsch gehandelt. Gerade in solch schwierigen Momenten darf man die Hilfesuchenden nicht allein lassen, sondern muss ihnen Kügelchen, Pülverchen oder Pillen mitgeben - und in hartnäckigen Fällen gleich eine Spritze verpassen.

Das heutige Arsenal der Ärzte erfüllt schließlich in etwa die Wirkung, die früher Glitzerperlen und Billigketten auf die Eingeborenen ausübten. Sie fühlen sich von den Eindringlingen besänftigt und beschenkt. Kurzum: Es geht ihnen sofort besser.

Auf die Pillenfarbe kommt es an

Deshalb ist auch der Arzt zu loben, den die Kollegin anschließend aufsuchte. Er gab ihr eine Spritze in den Po, die so groß war, wie man sie eigentlich nur noch aus dem Medizin-Kabarett kennt.

Dann verschrieb er ihr bunte Kapseln, einmal täglich. Der Mann ist auf dem Stand der Forschung. Denn Mediziner wissen mittlerweile genau, wie entscheidend die Symbolkraft ihrer Taten für den Behandlungserfolg ist.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein - und die Erwartungshaltung die Wirkung. So sind Spritzen aus Sicht der Kranken viel hilfreicher als Pillen - auch wenn es sich in beiden Fällen um Zuckerlösung handelt.

Auch die Wirkung von Tabletten hängt von ihrem Design ab, wie Placebo-Forscher entdeckt haben. Patienten trauen Kapseln und Dragees einfach mehr zu als Tabletten. Größere wirken stärker als kleine. Sogar die Farbe spielt eine wichtige Rolle: Rote, orange und gelbe Tabletten gelten als stimulierend, grüne oder blaue als beruhigend.

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Meine Spritze ist größer

Am besten direkt ins Blut

Auch für Spritzen gibt es eine klare Hierarchie. Subkutane Injektionen - das sind Piekser unter die Haut - sind etwas für Warmduscher. Tun kaum weh und gelten als längst nicht so wirksam wie Injektionen, die tiefer gehen oder richtig treffen. Stark wirksam sind nach Auffassung der Patienten daher Spritzen in den Muskel - die sind oft schmerzhaft und müssen allein schon deshalb helfen - oder Spritzen direkt ins Blut.

In vielen Ländern machen Ärzte sich diese Erkenntnisse zunutze. In den USA ergab kürzlich eine Untersuchung, dass mehr als die Hälfte der Internisten regelmäßig Placebos verschreiben. Sie nehmen dazu allerdings nicht immer Zuckerlösung, sondern auch Antibiotika, Beruhigungsmittel, Schmerztabletten und was der Medikamentenschrank an Mitteln kurz vor Ablauf des Haltbarkeitsdatums noch hergibt.

Vielleicht ließen sich mit Hilfe gezielt gewählter Placebos auch auf dem gelben Sofa ungeahnte Heilerfolge erzielen. Und zwar mittels Placebo-Diagnostik. Erstes Versuchskaninchen war ein Kollege, der seine Erkältung mit Hilfe nervtötender Selbstbeobachtung - in dieser Reihenfolge - schon zu Lungenkrebs, Asthma und allergischem Schock ausphantasiert hatte.

Ich sagte ihm auf den Kopf zu, dass er an einer leichten Sommergrippe leiden würde, die rein jahreszeitlich bedingt schnell wieder verschwinden würde. Er war perplex, fand es für die Jahreszeit zu kühl und trollte sich. Bei ihm musste es klappen. Er war es schließlich auch, der im November penetrant in der Kantine Frühlingsrolle bestellte.

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