Medizin und Wahnsinn (46):Im Spiegel der Selbsterkenntnis

Ein Standardlehrbuch sagt: "Der einzige Reiz, den alte Männer haben, ist der Hustenreiz." Doch mit dem ist nicht zu spaßen.

Werner Bartens

Ihm war unbestimmt subfebril zumute. Seine Freundin hatte das Röcheln, das er seinen Lungenbläschen nach dem Aufwachen entlockt hatte, kaum ernstgenommen, was seinem Gemütszustand nicht gut tat. Er klagte, wollte Mitleid.

Medizin und Wahnsinn (46): Wenn Männer erkältet sind, mutieren die Mitmenschen zu herzlosen Ignoranten.

Wenn Männer erkältet sind, mutieren die Mitmenschen zu herzlosen Ignoranten.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Das ist nur wieder so ein typischer Männerhusten, sagte sie. Dabei war er doch noch jung. Unmöglich konnte sie den Satz aus dem Pathologie-Buch kennen, der zeigte, was manche Mediziner für Humor hielten. Unter dem Kapitel Bronchitis ist in dem Standardlehrbuch seit Jahrzehnten bis zur heutigen Auflage zu lesen: "Der einzige Reiz, den alte Männer haben, ist der Hustenreiz."

Er beschloss in sich zu gehen. Deshalb blieb er diesmal nur kurz auf meinem gelben Sofa sitzen, um sich über die fehlende Anteilnahme seiner Umgebung zu beklagen und nebenbei ein paar Symptome zum Besten zu geben. Im Hinausgehen sagte er, dass ihm der Bauch weh tue, die Knie sowieso, aber das interessiere ja keinen hier.

Herzlose Ignoranten

Und die Ärzte auch nicht wirklich. Alles herzlose Ignoranten. Die würden ihn entweder auf der Stelle operieren wollen - oder fragen, ob er Stress habe. Er fühlte sich unverstanden in dieser Welt. Stress, Probleme? Seine Knie mussten doch nicht auf die Couch. So ein Unfug.

Er wollte jetzt etwas für sich tun und dachte über seine anderen Körperfunktionen nach. Er hatte mit Hilfe der modernen Medizin ein neues Verhältnis zu seinen Organen bekommen. Seine äußere Erscheinung war ihm nicht mehr so wichtig, er hatte den Reiz innerer Spiegelungen entdeckt. Seine Knie waren erst vor kurzem arthroskopiert worden.

Was für ein Wunderwerk der Natur! Noch immer war er angetan vom kühnen Schwung der Menisken und Kondylen. So glatt, rein und glänzend sahen sie aus. So unversehrt. Der Henkelriss im Knorpel würde sich schon glätten lassen, sagte der freundliche Orthopäde. Wie lange lag eigentlich seine letzte Darmspiegelung zurück? Seit er die Endoskopie als Methode der Selbsterkenntnis entdeckt hat, zählten für ihn vermehrt innere Werte.

Die Darmspiegelung vor zwei Jahren hatte er in guter Erinnerung. Die Umstände waren zwar nicht erbaulich. Dafür fand er den Live-Bericht aus seinem Inneren grandios. Wie das rötliche Gewebe glänzte! Das war nicht eklig oder abstoßend, sondern ästhetisch und sauber. Seit damals hatte er eine Vorliebe für Science-Fiction-Filme wie "Die Reise ins Ich" (1987) oder den Klassiker "Die phantastische Reise" aus dem Jahr 1966.

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Im Spiegel der Selbsterkenntnis

Am liebsten eine Spiegelung

Darin lassen sich ein paar Leute in einem U-Boot schrumpfen und in den Körper eines Ostblock-Forschers injizieren. Wenn ihm die Lende zwickte, schaute er sich wehmütig den norwegischen Film "Auf der Jagd nach dem Nierenstein" (1996) an.

Dummerweise hatte er sich für die Darmspiegelung damals ein einschläferndes Mittel geben lassen, sodass er die inneren Einblicke nur wie in Trance mitbekam. Er wollte sich deshalb sofort einen Termin für eine Nachuntersuchung geben lassen. Der Magendarm-Experte versuchte lustig zu sein und entgegnete: "Ten years after". Ist die erste Untersuchung unauffällig, hat die zweite ungefähr zehn Jahre Zeit.

Vielleicht ließ sich mit seinem Husten etwas anfangen. Der war immer noch lästig, seine Freundin würde schon sehen, dass es mindestens eine Erkältung war. Seine Eitelkeit war inzwischen ganz nach innen gekehrt. Allerdings schrak er vor einer Lungenspiegelung noch zurück. Allein die Vorstellung, einen Schlauch zu schlucken, brachte ihn an den Rand des Erstickens.

Er war latent neurotisch, schließlich konnte er nicht mal in Gesellschaft pinkeln. Seit frühen Kindertagen war es ihm auch unmöglich, Tabletten zu schlucken. Er nahm sie nur in zerbröselter Form zu sich. Er war irritiert. Seine Gedanken flackerten irr. Wieder kam er auf mein gelbes Sofa: Ob man neben Darm, Lunge und Knie auch das Gehirn spiegeln könnte, wollte er wissen.

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