Medizin und Wahnsinn (21):Ein akuter Schub

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Wenn einem urplötzlich schwindelig wird, kann es daran liegen, dass die Welt aus den Fugen gerät - oder an den feinen Härchen im Ohr.

Werner Bartens

Die letzten Tage waren grauenhaft, öd und leer. Der Bauch fühlte sich nasskalt an und so, als ob ihn jemand mit einer Feile aufgerauht und nicht wieder glattgeschliffen hätte - eine Art Gänsehaut von innen. Dem Kopf ging es auch nicht gut: schwer, verschnupft, voller wirrer Gedanken. Fieber auch, Müdigkeit. Was für ein Beschwerden-Orkan. Niemand leidet so hingebungsvoll und erschütternd wie der stattliche Kollege, der gerade auf meinem gelben Sofa Platz genommen hat und von seiner jüngsten Pein berichtet.

Manchmal dreht sich die Welt einfach zu schnell. (Foto: Foto: iStockphotos)

Dabei musste er geschwächt, wie er war, auftreten, musste hinaus in die feindliche Welt, die Veranstaltung war schon lange ausgebucht. Er war ausgeliefert den Wogen des Geschmacks und den Zuschauern. Eineinhalb Stunden lang hatte er auszuhalten. Anfangs ging es ihm schlecht, dann wurde es schlimm. Er hatte das Gefühl, dass ihm beim Reden die Stimme wegbrach, der Ton immer dünner wurde. Dass sein Körper vor Hitze loderte und es in seinem Kopf hämmerte, war ihm wahrscheinlich nicht anzusehen. Die Schweißperlen auf seiner Stirn wischte er weg.

Er schaute gerade nach unten auf sein Manuskript, da passierte es. So muss es einer Billardkugel ergehen, die angestoßen wird. Plötzlich drehte sich alles um ihn herum, ihm wurde übel, er hielt sich am Tisch fest.

Ein Hirntumor - mindestens!

Das Publikum schien in Kreisbewegungen näherzukommen und sich wieder zu entfernen, eine volle Ladung schwankender Gestalten. Er musste inzwischen wohl sehr blass geworden sein, denn ein Zuschauer in der ersten Reihe fragte: "Geht es Ihnen nicht gut?"

Er dachte an einen Hirntumor, mindestens. Die ganze Zeit über hatte er sich ausgemalt, dass dieses Dröhnen hinter seinen Schläfen unmöglich allein auf ordinäre Kopfschmerzen zurückzuführen war. Jetzt ging es rapide abwärts, er musste einen akuten Schub haben, anders war das Karussell vor seinen Augen nicht zu erklären.

Ein paar Tage später, ein Arzt sitzt auf meinem gelben Sofa, ein Experte in Schwindeldingen jedweder Art. Er schmunzelt, denn in jüngster Zeit ist ihm selbst öfter schwindelig. Er kann das natürlich erklären, gerade in den schweren Jahren ab 40 nimmt bei vielen Menschen das Gefühl zu, die Welt gerate aus den Fugen und direkt vor ihren Augen in Bewegung. "Das sind die Flimmerhärchen im Gleichgewichtsorgan", sagt er. "Die sind nicht mehr so beweglich und geben Lageveränderungen langsamer an das Gehirn weiter." Was das Auge sieht und was der Kopf registriert, stimmt eben nicht immer überein, das sind Erfahrungen aus der Lebensmitte. In solchen Momenten ist es schön, sich mit nackten Fakten von schlingernden Härchen zu beruhigen.

Er stelle sich dann ein Getreidefeld im Sommerwind vor, sagt der Arzt. Werden die Ähren angestoßen, reagieren sie mit zunehmendem Alter nur noch wie in Zeitlupe. Dem Kollegen, der wieder von Grippe und Kopfschmerz genesen ist, hat das eingeleuchtet. Er bewegt sich nur noch tänzelnd wie im Sommerwind.

Er hat allerdings auch damals schon, im Moment seines Auftritts, Linderung erfahren. "Das war ein Schubverband", hatte der mitfühlende Zuschauer aus Reihe eins gesagt, als er den schweren Mann leiden sah. "Das kommt hier öfter vor." Schubverband, das klang nach einer Wickeltechnik für Schwerverletzte. Es entpuppte sich aber als etwas, das Menschen, die nicht am Wasser gebaut haben, wohl als Frachtkahn bezeichnen würden. Die Veranstaltung fand auf einem Schiff statt. Ein vorbeifahrender Kahn hatte sanfte Wellen verursacht, sodass der Kollege das Gefühl hatte, die ganze Welt drehe sich nur um ihn.

Kontakt zu dem Autor können Sie aufnehmen unter werner.bartens@sueddeutsche.de

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