Medizin und Wahnsinn (145):Durchblick im Delirium

Ungeahnte Tiefenschärfe im Bierzelt: Ein Augenarzt verspricht Wiesnbesuchern frischen Durchblick und erfindet gleich ein neues Geschäftsmodell mit - die Event-Medizin. Doch Nachahmer sollten einiges beachten.

Werner Bartens

Diese Therapie muss etwas taugen, schließlich wird sie unter erschwerten Bedingungen an den Mann gebracht. Nächste Woche will ein Augenarzt ausgewählten Pressevertretern eine ,,revolutionäre Augenlaser-Methode'' vorstellen. Nicht etwa in einer Augenklinik oder in einer Arztpraxis zwischen diesen Tafeln mit den immer kleiner werdenden Buchstaben. Das wäre zu einfach. Die Darbietung findet vielmehr im härtesten Umfeld statt, das München in den kommenden Wochen zu bieten hat - auf dem Oktoberfest in der ,,Käfer Wies'n-Schänke''. Allerdings hat der Augenarzt nicht genau hingeschaut, als er seine Einladung formuliert hat. Die Wiesn in München als ,,Wies'n'' zu beschreiben, kann nur durch Fehlsichtigkeit im zweistelligen Dioptrie-Bereich erklärt werden.

Verona Pooth auf dem Münchner Oktoberfest, 2006

Tiefe Einsichten, wie hier bei Verona Pooth, sind auf der Wiesn eigentlich garantiert. Doch manche wollen für einen noch verschärfteren Durchblick sorgen.

(Foto: ddp)

Das Käferzelt muss man sich als geschützte Einrichtung für die saisonale Selbsthilfegruppe bestimmter Münchner Facharztdisziplinen vorstellen. Hier treffen im Dunst der Leiber und Leidenschaften die Fettabsauger und die Laser-Behandler zusammen und beklagen sich mit den Nasen-Begradigern darüber, dass der Radiologe noch mehr verdient, seit er diese Ganzkörper-Scans als Check-up anbietet. Die bereits behandelte Kundschaft und die Klientel, die noch auf einen Termin wartet, sitzen oft nur wenige Tische entfernt.

Er freue sich ,,in dieser besonderen Atmosphäre auf interessante Gespräche und einen fachlichen Austausch'', schreibt der Augenarzt freundlich.Auf diese Idee muss man erst mal kommen. Wenn die Augen glasig und der Geist naturtrüb werden und die Menschen in der Umgebung zu einer amorphen Masse von Trinkern verschwimmen, will der Augenarzt für verschärften Durchblick sorgen. Man kann sich gut vorstellen, wie überzeugend eine Methode ist, wenn der eben noch verengte Blick auf Dickschädel, Dirndl und Dekolletés plötzlich mit einem Zugewinn an Tiefenschärfe einhergeht und ungeahnte Einblicke ermöglicht.

Die Initiative des Augenarztes ist ein vorbildliches Beispiel dafür, wie die Medizin zu den Menschen kommt und die Ergebnisse der Laserforschung endlich auf ihre Praxistauglichkeit geprüft werden können. Es gibt ja bei vielen Menschen eine diffuse Schwellenangst, etwas Neues auszuprobieren, wenn sie es nicht alltagsgerecht serviert bekommen. Diesem Gedanken müssen sich auch die Unterammergauer verpflichtet gefühlt haben. In ihrer Gemeinde befindet sich der Steckenberg, der noch bis vor wenigen Jahren öde und ungenutzt in der oberbayerischen Landschaft herumstand. Dann wurde er zum ,,Erlebnisberg'' ernannt, seitdem gibt es auf dem Hügel kein Halten mehr.

Auch der Restaurantbesuch hat ja erst einen viel beachteten Aufschwung hingelegt, als ihn die Erlebnisgastronomie zum Ereignis erklärte. Vielleicht sollten Fachärzte ihre Zusatzangebote künftig nicht mehr als IGel-Leistungen, sondern als Erlebnismedizin anpreisen. Wenn eine Sommerrodelbahn den Berg und ein paar Wunderkerzen auf dem Dessert die Gastronomie zum Erlebnis machen, sollten der Event-Medizin auch ein paar passende Accessoires einfallen.

Vor allzu ausgefallenen Sprachschöpfungen ist allerdings zu warnen. Das könnte missverstanden werden. Das neue Modell eines Fahrradhelms von einem etablierten Hersteller hört beispielsweise auf den Namen ,,Delirium''. Das ist zwar originell, bezeichnet vermutlich aber eher den Zustand, vor dem der Helm im Fall des Falles schützen soll. Möglich ist allerdings auch, dass der Helm zuerst von angeheiterten Neurochirurgen auf dem Oktoberfest vorgestellt wurde.

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