Medizin und Wahnsinn (14):Heilen durch Abschreckung

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Im Wartezimmer beim Dermatologen hängen Plakate mit den scheußlichsten Ekzemen, Warzen und nässenden Geschwüren. Wollen Mediziner ihre Patienten abschrecken?

Werner Bartens

Manche Mediziner müssen perverse Neigungen verspüren, anders ist das kaum zu erklären. Im Wartezimmer beim Dermatologen hängen Plakate mit den scheußlichsten Ekzemen, Warzen und nässenden Geschwüren. Beim Chirurgen gibt es die häufigsten Knochenbrüche detailgetreu nachgebildet oder Krampfadern in allen blauvioletten Verflechtungen. Sollen damit die Patienten abgeschreckt werden nach dem Motto: Wenn ihr nicht früh genug zum Arzt geht und nicht auf euch aufpasst, werdet ihr auch so enden?

Die besagten Titelbilder medizinischer Fachblätter und Poster in Arztpraxen, kennen Sie sicher zur Genüge. Wir ersparen Ihnen an dieser Stelle den Anblick. (Foto: Foto: iStockphotos)

Schlimmer treibt es nur die Münchener Medizinische Wochenschrift (MMW), die früher mal ein renommiertes Fachblatt war. Ende Januar war auf der Titelseite ein "Haar auf Abwegen" zu sehen. Unter der Überschrift "Notfall in der Rima ani", wurde eine Entzündung in der Gesäßfalte und die ebenso großflächige wie blutige chirurgische Therapie als vierteiliger Fotoroman abgebildet. Eine Woche später zierte eine trockene Zunge in Großaufnahme das Cover der Zeitschrift. Mick Jaggers pop-ikonographisch vervielfältigtes Leckorgan wirkt dagegen geradezu kümmerlich.

Blutüberströmte Senioren

Von meinen Kollegen wird die Auslieferung der MMW mittlerweile mit großem Hallo begrüßt. Unvergessen der Titel "Ski(Un-)Heil!", der einen blutüberströmten älteren Herrn am Rand der Piste zeigte. Das "Praxisproblem Schmerz" wurde mit einem bärtigen Mann illustriert, der den Kopf auf ein Nagelbrett gelegt hat, während ihm ein anderer Mann auf den Kopf steigt. Sieht so aus, als ob der Mann unten schreit. Die Überschriften "Herzpatienten immer fetter" (auf dem Bild sind ein sehr dicker Mann und ein schlanker Arzt zu sehen) oder "Ist sie von Sinnen?" (das Bild zeigt eine Demenzkranke) sind da vergleichsweise dezent.

Mediziner werden aus solch drastischen Titelbildern kaum Gewinn ziehen oder sich fortbilden. Wer als Arzt zu Zynismus oder Voyeurismus neigt, findet hier neues Anschauungsmaterial, um sich über Patienten lustig zu machen. So kann das doch nicht gemeint sein.

Seit ich den Stapel mit den abstoßenden Titelbildern neben meinem gelben Sofa liegen habe, erkenne ich die eigentliche Absicht dahinter. Neulich kam ein Kollege, der hatte ein paar Pickel an der Wange und murmelte etwas von "Bartflechte". Beiläufig blätterte er währenddessen in der Münchener Medizinischen Wochenschrift, es gab da diesen Schwerpunkt "Kranke Kinderhaut", reichlich bebildert. Er hat keine Neigung zum Hypochonder, aber als er die Fotostrecke sah, fühlte sich der Kollege gleich besser, verabschiedete sich schnell und sagte nur: "So schlimm ist es gar nicht."

Diese Art Therapie könnte auch der Kollegin mit den schmerzenden Füßen helfen. Sie hat ziemlich schiefe Zehen und eingewachsene Nägel. Wenn sie das Titelbild der MMW "Schicke Schuhe und kaputte Füße" sehen würde, auf dem der zweite Zeh den Großzeh grotesk überkreuzt, fühlt sie sich danach bestimmt viel besser, kauft sich Gesundheitslatschen und meldet sich zur Fußpflege an.

Natürlich wird es auch Rückschläge geben, etwa bei dem Kollegen, der neulich die kleine Verletzung im Gesicht hatte. Er wusste nicht, ob er sie nähen lassen sollte, ich riet davon ab. Er darf besser nicht das MMW-Titelbild mit der Nase in Großaufnahme sehen. Durch die Nase geht ein Riss, nein: gehen zwei Risse. Sie sind mit zehn Stichen genäht. Die Wunde klafft auseinander. Darunter die Frage: "Darf das der Hausarzt?" Ein Blick, und der Kollege wäre sofort panisch in die nächste chirurgische Ambulanz gerannt.

© SZ vom 9. - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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