Medikamente:Zwischen Heilung, Geschäft und Risiko

Lesezeit: 5 min

Schwerkranke fordern, dass neue Medikamente schneller zugelassen werden - aber damit steigt auch die Gefahr für einen fatalen Fehlgriff.

Werner Bartens

Vielleicht sind ja engagierte HIV-Infizierte schuld. An all den tödlichen Zwischenfällen und Nebenwirkungen, die Medikamente wie Lipobay, Vioxx und andere Arzneimittel ausgelöst haben.

Bis zu 5000 Todesfälle durch Nebenwirkungen (Foto: Foto: AP)

Was das mit den Aids-Aktivisten zu tun hat? Nachdem die Krankheit Ende der achtziger Jahre stärker ins öffentliche Bewusstsein rückte, machten Infizierte ihrer Unzufriedenheit vernehmlich Luft. Unter dem Motto ,,Act now'' forderten sie schnelleren Zugang zu Medikamenten und veranstalteten 1993 Sitzblockaden vor der US-Arzneizulassungsbehörde FDA.

Neue Mittel sollten schneller auf den Markt kommen, so ihr Appell. Gerade Schwerkranke müssten rascher Zugang zu Pharmaka bekommen, auch wenn die Substanzen noch nicht alle Tests durchlaufen hätten. ,,Eure Langsamkeit bringt uns um'', warfen Schwerkranke den Arzneimittelbehörden vor.

Schwere Arzneimittelnebenwirkungen sind häufiger als gedacht

Fast 15 Jahre später ist zumindest eine Hauptforderung der Aids-Aktivisten erfüllt: Die FDA gehört mittlerweile zu denjenigen Arzneimittelbehörden, die weltweit am schnellsten Medikamente auf den Markt lassen.

Das deutsche Pendant der FDA, das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ,,steht schon auf Platz eins in Europa, was die Geschwindigkeit der Zulassungen angeht'', sagt Wolfgang Becker-Brüser vom kritischen Arznei-Telegramm.

Wenn neue Medikamente schneller auf den Markt kommen, muss das nicht immer im Sinne der Patienten sein. ,,Zum Zeitpunkt der Zulassung ist die Abwägung zwischen Wirksamkeit und Sicherheit nicht möglich'', sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Ludwigs Maximalforderung wäre es, vor der Zulassung alle Sicherheitsbedenken auszuräumen - ,,aber das ist unrealistisch''.

,,Arzneimittel zu geben ist ein Hochrisikoprozess'', sagt Daniel Grandt vom Klinikum Saarbrücken, der 1995 den ersten Kongress über Patientensicherheit bei medikamentöser Therapie mitinitierte. ,,Das unterschätzen Ärzte wie Patienten oft.''

Ein unterschätzter Hochrisikoprozess

Dabei ist es selbst für Mediziner schwer, den Überblick über die etwa 20000 verschreibungspflichtigen Arzneimittel mit mehr als 1800 Wirkstoffen zu behalten, die es allein in Deutschland gibt. Nehmen Patienten mehrere Medikamente, können Ärzte kaum durchschauen, welche Wechselwirkungen drohen und welche Patienten besonders gefährdet sind, Nebenwirkungen zu erleiden.

Das hat Folgen - täglich in Kliniken und Arztpraxen. Auch wenn es keine genauen Zahlen gibt, sind schwere Arzneimittelnebenwirkungen viel häufiger, als bisher angenommen wurde. Die Pharmakologen Kathleen Giacomini aus San Francisco und Michael Hayden von der University of British Columbia vermuten, dass allein in den USA jährlich etwa zwei Millionen Menschen schwere Nebenwirkungen nach der Einnahme von Medikamenten erleiden. 100000 Patienten sterben sogar daran (Nature, Bd. 446, S.975, 2007). Demnach wären schwere Arzneimittelfolgen die vierthäufigste Todesursache in den USA - dicht nach Krebs, Herzleiden und Schlaganfall.

Für Deutschland sind die Zahlen schwer zu ermitteln. Abgesicherte Erhebungen gibt es nicht und sie waren auch lange Zeit von Ärzten nicht erwünscht. Über Ursachen und mögliche Vermeidungsstrategien wurde kaum geforscht. ,,Gerade darin besteht der Skandal'', bemängelt Bruno Müller-Oerlinghausen, langjähriger Vorsitzender der AkdÄ.

Das schwarze Warndreieck

Überträgt man Studien aus Ländern wie den USA, Großbritannien oder Norwegen auf Deutschland, wäre hierzulande nach zurückhaltenden Schätzungen jährlich mit etwa 16000 Todesfällen durch falsch verordnete, falsch dosierte oder nicht vertragene Medikamente zu rechnen. Andere Analysen kommen sogar auf mehr als 50000 Todesfälle durch Arznei-Nebenwirkungen.

Seit 1998 sind in den USA 19 Medikamente wegen schwerer Nebenwirkungen vom Markt genommen worden. Seither wurden die Mittel immer schneller zugelassen, Nachkontrollen waren offenbar zu lax. Manche Mittel wurden jahrelang verschrieben und von Millionen Menschen geschluckt: Terfenadin etwa wurde 1985 zur Behandlung von Allergien zugelassen - erst 1998 nahm man es vom Markt.

Analysen zeigten, dass das Mittel Herzrhythmusstörungen auslösen konnte. Der Fettsenker Lipobay kam 1997 auf den Markt und wurde erst vier Jahre später zurückgezogen, nachdem Patienten gestorben waren. Vioxx, ein Schmerzmittel, wurde 1999 bis 2004 von Millionen Menschen verwendet, bis herauskam, dass es das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall fast verdoppelte.

,,Es fehlt an besseren Anwendungsbeobachtungen, wenn die Mittel einmal auf dem Markt sind'', sagt Gerd Antes vom Cochrane-Zentrum in Freiburg, das die Qualität medizinischer Studien bewertet. Entsprechende Untersuchungen werden zum großen Teil von der Pharmaindustrie beauftragt, sind methodisch oft minderwertig und werden deshalb als ,,Marketingstudien'' verhöhnt, die einzig dazu dienen, neue Medikamente bei Ärzten anzupreisen.

,,Hier muss öffentlich mehr investiert werden'', fordert Antes. ,,Die untersuchten Kollektive müssen größer sein, und das Datenmaterial muss seriöser ausgewertet werden.'' Dann ließen sich zukünftig womöglich einige Arzneimittelskandale vermeiden.

Wolf-Dieter Ludwig von der Arzneimittelkommission kritisiert, dass zu selten Zulassungen mit Auflagen vergeben würden. Das bedeutet etwa, dass die Zulassung nach einem Jahr nur verlängert wird, wenn bis dahin eine Studie ergeben hat, dass bestimmte Patienten nicht stärker gefährdet sind. ,,In den USA ist zudem neuerdings vorgeschrieben, dass ein schwarzes Dreieck auf neuen Medikamenten die begrenzte Erfahrung mit dem Mittel signalisiert'', sagt Ludwig. In Deutschland gibt es solche Vorschläge zwar auch, sie werden von den Zulassungsbehörden aber nicht umgesetzt.

Die Bedingungen für mehr Sicherheit in der Arzneibranche sind nicht gerade günstig. Die Pharmaindustrie hat in vielen Ländern zumindest indirekt Einfluss darauf, wie Medikamente zugelassen und kontrolliert werden. Das BfArM bezieht einen großen Teil seines Budgets aus Gebühren, die Firmen für die Zulassung neuer Medikamente entrichten.

Ein neuer Gesetzentwurf vom Dezember 2006 sah sogar eine noch engere Vernetzung von Industrie und Zulassungsbehörden vor: Die Bundesregierung plante eine Deutsche Arzneimittel- und Medizinprodukte-Agentur (Dama), die noch stärker von der Pharmaindustrie finanziert werden sollte. Ziel war es, die derzeitige Zulassungsfrist von de facto etwa 500 Tagen für ein neues Medikament auf die Hälfte der Zeit zu reduzieren.

Das Beispiel USA zeigt, wie die Beschleunigung zu Fehlern führt

,,Das ist eine gefährliche Tendenz, ich sehe nur negative Aspekte'', sagt Michael Kochen, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin. ,,Wenn die Industrie die Zulassung ihrer eigenen Medikamente beschleunigt und bezahlt, ist kaum noch eine staatliche Regulierung möglich, die den Verbraucher schützt.''Zudem würden Medien und Interessengruppen schon dafür sorgen, dass ein Mittel schneller auf den Markt kommt, wenn es wirklich dringend nötig sein sollte, glaubt Kochen.

In den meisten Fällen käme es für die Verbraucher nicht darauf an, ob ein Medikament einen Monat früher oder später zugelassen werde, findet auch Wolfgang Becker-Brüser: ,,Das ist nur für die Industrie von Interesse. Bei der begrenzten Patentlaufzeit kann jeder Monat, den ein Mittel eher auf dem Markt ist, Millionen bringen.''

Becker-Brüser hält es zudem für einen ,,grundsätzlichen Webfehler'', wenn dieselbe Institution - teilweise sogar dieselben Personen -, die ein Mittel zulassen, es auch wieder vom Markt nehmen sollen. ,,Wenn man gute Gründe hatte, für etwas zu sein, fällt es schwer, sich später einzugestehen, dass man danebenlag.''

Zudem zeige das Beispiel USA, dass der Einfluss der Industrie Fehler beschleunigen könne. ,,Natürlich muss zwischen Fortschrittsfeindlichkeit und Patientenschutz abgewogen werden'', sagt Gerd Antes. ,,Aber wenn die Zulassung zu schnell geht, wächst das Risiko für einen fatalen Fehlgriff.''

Die Forderung der Aids-Aktivisten und der öffentliche Druck, Medikamente früher zuzulassen, trugen dazu bei, dass Pharmafirmen die Zulassungsbehörde immer stärker mitfinanzierten. ,,Die Unternehmen entwarfen Pläne, wonach Firmen Gehälter von Mitarbeitern der Arzneimittelbehörde bezahlten, die Zulassungsanträge derselben Firmen zu begutachten hatten'', kritisiert der Harvard-Pharmakologe Jerry Avorn.

Lobbyarbeit vor Patientenschutz

Der Industrieeinfluss stieß von Anfang an auf Kritik, machte er doch eine unabhängige Bewertung neuer Arzneimittel fast unmöglich. Dennoch stieg die Summe, die die FDA von der Industrie bekam, von 8,9Millionen Dollar 1993 auf 232,1Millionen Dollar im Jahr 2004.

Betrug der Industrieanteil am Budget im ersten Jahr nur knapp sieben Prozent, macht er mittlerweile 40 Prozent aus (New England Journal of Medicine, Bd. 356, S. 1697, 2007). Die ursprüngliche Regelung sah 1993 sogar vor, dass mit dem Geld aus der Industrie keine Studien finanziert werden sollten, in denen Nebenwirkungen nach der Zulassung untersucht wurden. Dies ist genau die Phase, in der sich Komplikationen häufen.

Eine weitere - stark kritisierte - Veränderung innerhalb der FDA bestand darin, Mitarbeiter, die zuvor in der Abteilung für Medikamentensicherheit mit der Überwachung von Nebenwirkungen beschäftigt waren, nun damit zu beauftragen, schneller Medikamente zuzulassen.

Jerry Avorn berichtet, dass ein Mitarbeiter der FDA, der wiederholt auf die Gefahr schwerer Arzneimittelnebenwirkungen hingewiesen hatte, von Vorgesetzten ermahnt worden sei, daran zu denken, wer Hauptkunde der Agentur sei - die Pharmaindustrie. ,,Das ist seltsam'', habe der FDA-Mitarbeiter entgegnet, ,,ich dachte, unsere Kunden seien die Bürger unseres Landes.''

In den USA wie in Deutschland muss die Politik bald entscheiden, ob Pharmafirmen so stark in die Zulassung einbezogen bleiben. Der Kongress berät im Sommer über die weitere Finanzierung der FDA. In Deutschland fordern derzeit immer mehr Politiker, den Gesetzentwurf für die Dama fallen zu lassen, weil sie den Einfluss der Industrie begrenzen möchten.

© SZ vom 26.5.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: