Mauerfall:Wo die Einheit wohnt

Straße der Einheit - Teutschenthal, Sachsen-Anhalt

Michael Dubilzig, ehemaliger Bergmann und Schalke-04-Anhänger, in seiner Garage an der Straße der Einheit in Teutschenthal.

(Foto: Christian A. Werner)

Die Wende hat die Landkarte verändert. Es gibt keine Grenze mehr - dafür Straßen, Plätze, Brücken und Tunnel der Einheit. Eine Reise nach Wiesbaden und Teutschenthal.

Von Ulrike Nimz und Antonie Rietzschel

Gleich hinter Halle ist das Land aufgewühlt. In weißen Dünen ragt Abraumsalz in den Himmel, das unvermeidliche Erbe des Kalibergbaus. In den deutschen Revieren haben sie Kosenamen für diese Wahrzeichen - Monte-Kali, Kalimandscharo - das klingt nach großer, weiter Welt. In Teutschenthal, Sachsen-Anhalt, sagen sie: Halde. Wenn Jutta Schäl im Garten der Bäckerei steht, dann fällt ihr Blick auf die Halde, und der Schatten der Halde fällt auf sie. Man kann das Wetter am Salzberg ablesen, sagt sie. Sieht er aus wie der perfekte Rodelberg, wird die Sonne scheinen. Sieht er aus wie ein monströser Maulwurfshügel, gibt es Regen.

Die Bäckerei Schäl gibt es seit 1923, Straße der Einheit 17. Die Straße beginnt am Bahnhof und endet auf Höhe eines Garagenkomplexes. Reihenhäuser, das Denkmal für verunglückte Bergarbeiter, 1,1 Kilometer. Dienstags hält ein mobiler Hofladen, einmal im Monat ist Seniorentanz drüben in der Volkssolidarität. Es gibt Pfirsichbowle und nach jedem Lied Applaus. Die Straße ist nicht gerade das Zentrum des Ortes, aber das dieser Geschichte. Die Wende hat das Land verändert, auch auf der Landkarte.

Es gibt keine Grenze mehr, dafür Straßen, Plätze, Brücken, Tunnel der deutschen Einheit. Manche wurden vor dem Mauerfall benannt, als hoffentlich selbsterfüllende Prophezeiung. Manche erst danach. Es gibt einen Wanderweg von Görlitz nach Aachen und eine "Erlebnisstraße" entlang des ehemaligen Todesstreifens. Wie lebt es sich an den Adressen der Einheit in Ost und West, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Was lässt sich lernen über das Land, durch Ortsbesuche und den Zauber der Zufallsbegegnung?

Straße der Einheit - Teutschenthal, Sachsen-Anhalt

Die Bäckerei von Jutta Schäl in Teutschenthal gibt es schon seit 1923. Der Laden liegt an der Straße der Einheit, Hausnummer 17.

(Foto: Christian A. Werner)

Jutta Schäl, 80, hat Kaffee gekocht, einen Tisch in der Bäckerei freigeräumt. Sie tanzt nur noch selten, seit sie einen Gehstock braucht. Jahrelang hat sie hinter der Theke gestanden. Heute führt der Sohn die Geschäfte, ihr Enkel hat sich auf ausgefallenes Backwerk spezialisiert. Traktor-Torte, Batman-Torte, auch ein DDR-Kuchen ist schon bestellt worden, Hammer und Zirkel aus zuckrigem Fondant. Die Bäckerei Schäl liegt gegenüber dem ehemaligen Kaliwerk. "Wenn die Werkssirene ging, wurde es eng hier drin", sagt Jutta Schäl.

Die Worte "früher" und "damals" hört man oft in Teutschenthal

Fragt man die Anwohner der Straße der Einheit, was typisch ist für Teutschenthal, ist die erste Antwort: die Grube. Fast jeder hier hat irgendwann mal dort gearbeitet oder tut es noch. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Teutschenthal Kali- und Steinsalz für Düngemittel abgebaut. Sie haben das Letzte aus der Erde geholt; die Halde ist an die 100 Meter hoch. Heute werden unten in der Grube nur noch Hohlräume verfüllt - mit Schlacken, Aschen, Industrieabfällen. Immer wieder klagen Menschen in Teutschenthal und Umgebung über Gestank und Atemnot.

Jutta Schäl aber klagt selten, erzählt heiter, wie damals die feinen Dederon-Strümpfe beim Trocknen auf der Leine Löcher bekamen, der Sohn verrußt nach Hause kam, weil die Schlote Asche in die Luft bliesen. "Den Kinderwagen konnteste früher nicht draußen stehen lassen. Aber auch das war irgendwie Heimat." Die Worte "früher" und "damals" hört man oft in Teutschenthal: Früher sei das Miteinander herzlicher gewesen. Früher gab es noch eine Kneipe. Damals haben bis zu 1200 Menschen im Werk gearbeitet, heute sind es noch 200.

Die Straße der Einheit wird oft mit der Straße der deutschen Einheit verwechselt

Einer von ihnen ist Michael Dubilzig. Er sitzt im hinteren Teil der Bäckerei, ein schmaler Mann, der aussieht, als wolle er eins mit dem Tisch werden. Seine Schalke-Kappe hat er tief ins Gesicht gezogen. Nach der Schicht kommt er hierher, um ein Bier zu trinken. Er kann dann besser einschlafen, sagt er. Dubilzig ist an der Straße der Einheit aufgewachsen. Die hieß schon vor dem Mauerfall so, wegen des Zusammenschlusses von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). In den Neunzigern entschied der Gemeinderat, es bei dem Namen zu belassen. Schließlich war man so am Puls der neuen Zeit. Seit 2009 gibt es im abgelegenen Ortsteil Dornstedt auch eine Straße der deutschen Einheit. Aber die wird von den meisten Navis nicht gefunden und sorgt manchmal für Verwirrung bei den Paketboten.

Michael Dubilzig, 56, arbeitete fast zehn Jahre als Bergmann unter Tage, heute ist er Anlagenfahrer. Ihm gefiel, dass es im Schacht kein Wetter gab, sondern immer um die 20 Grad. "Die größte Gefahr da unten war das Rauchen", sagt er, und Dubilzig raucht seit der Jugendweihe. Die Kinder hätten oft auf der Halde gespielt. Immer mal wieder sei da oben jemand verschüttet worden. Wie alle Teutschenthaler kann er sich an den Bergschlag vom 11. September 1996 erinnern. Manche sagen: "Nine-Eleven". Zwanzig Sekunden lang bebte die Erde, 4,9 auf der Richterskala. Schornsteine bekamen Risse, eine Hausfassade krachte in sich zusammen.

Als die Mauer zusammenkrachte, saß Michael Dubilzig mit Freunden im Kulturhaus. Sie kauften einen Kasten Bier, bestiegen ein Taxi und fuhren Richtung Westen, für 300 Ostmark, so erzählt er es. Heute treffen sie sich an den Garagen, wenn sie etwas trinken wollen. Der letzte Stammtisch an der Straße der Einheit.

Dubilzigs Garage kann man gut erkennen, die Tür ziert das Logo seines Lieblingsvereins, unter der Decke wölbt sich ein Baldachin aus Fanschals. Warum gerade Schalke 04, ein westdeutscher Verein, jedes Spiel ein Auswärtsspiel? Dubilzig zieht an seiner Zigarette, hält die Erklärung so knapp wie möglich und so lang wie nötig: "Bin Bergmann, genau wie die." Was wünscht er sich für Teutschenthal? Der Mann, der nur Tina Turner mehr liebt als die Arbeit unter Tage, sagt: "Die Straßenbeleuchtung könnte besser sein. Mir ist es hier manchmal zu dunkel."

Ein richtiger Kulturschock

Mauerfall: Das Stück Mauer am Platz der Einheit in Wiesbaden spendierte einst die "Bild"-Zeitung.

Das Stück Mauer am Platz der Einheit in Wiesbaden spendierte einst die "Bild"-Zeitung.

(Foto: Janina Stadel/Merkurist.de)

Knapp 400 Kilometer westlich ist es auch nachts taghell. Seit dem großen Umbau flankieren Straßenlaternen den Platz der Deutschen Einheit. Ihr Neonlicht hält die Schatten klein, Videokameras filmen die Straße. Und bevor nun die Debatte um Hell- und Dunkeldeutschland angeknipst wird, sei erwähnt, dass es vielen Wiesbadenern hier noch nicht beleuchtet genug ist. Sie fühlen sich unsicher, fürchten sich vor den jungen Männern, die vor den Wettbüros auf ihrem Handy herumwischen.

Es war der Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953, der den hessischen Innenminister veranlasste, die Umbenennung von Straßen und Plätzen zu empfehlen. Als Ausdruck der Hoffnung; als könnten Straßenschilder den Weg weisen in ein irgendwann wiedervereintes Land. Der Wiesbadener Boseplatz, benannt nach einem preußischen Infanterie-General, wurde zum Platz der Deutschen Einheit, später Parkplatz und Busbahnhof. Als das ehemalige Kaufhaus in der Mitte des Platzes vor aller Augen verfiel, bekam er weitere Namen: "Schandfleck" und "offene Wunde". Heute nennen die Wiesbadener ihn gnädig "Vorgarten", denn es hat sich viel getan.

Das Wiesbadener Mauerstück ist versteckt

Das Kaufhaus hat die Stadt abreißen lassen, Rasen ausgerollt. Der Platz der Deutschen Einheit ist heute eine grell-grüne Wiese, durch die sich der Kesselbach schlängelt. In einem Würfel aus Stein und Glas trainiert die Volleyballmannschaft für die 1. Bundesliga. Die Polizei zog in den neuen Klinkerbau gegenüber. Dazwischen steht verloren ein Stück Beton: 3,60 Meter hoch, 2,7 Tonnen schwer, über und über mit Graffiti beschmiert. Es sieht aus, als hätten es die Bauarbeiter beim Umbau des Platzes vergessen. Dabei ist es nirgendwo so gut aufgehoben wie hier, dieses Stück der Berliner Mauer. 2009 verschenkte die Bild -Zeitung in einer großen Aktion solche Mauerfragmente an jedes Bundesland, auch an Hessen. Zur Einweihung auf dem Platz der Deutschen Einheit kam der damalige Ministerpräsident Roland Koch und 200 Schüler des nahen Gymnasiums. Koch bezeichnete das Stück Mauer als "Stein des Anstoßes". Die Bild schrieb von einem "Denkmal der Freiheit".

Nach Berlin reisen Touristen aus aller Welt, um die Reste des Bauwerks zu bestaunen, das Deutschland mehr als 28 Jahre lang teilte. Das Wiesbadener Mauerstück ist hinter Bäumen verborgen. Eine zerbrochene Bierflasche liegt neben dem bemoosten Sockel. Wer Passanten danach fragt, blickt in ratlose Gesichter. Erdal Aslan, 40, weiß um die Bedeutung des Stücks Beton. Als sein Lehrer im Leistungskurs Geschichte einst wissen wollte, was die 70 000 Menschen am 9. Oktober 1989 skandierten, als sie um den Leipziger Innenstadtring liefen, meldete Aslan sich als Einziger, sagte: "Wir sind das Volk".

Aslan sitzt auf der Terrasse eines Cafés direkt am Platz der Deutschen Einheit. Es gibt Eis und Waffeln, die aussehen wie Döner mit Sahne. Anfang der Nullerjahre reiste Aslan mit dem Ausländerbeirat in die östlichste Stadt Deutschlands - Görlitz ist die Partnerstadt von Wiesbaden. Er kann sich an die mittelalterlichen Fassaden erinnern, aber auch an die Leere in den Straßen. An das Gefühl, fremd zu sein. Die Gruppe bestand aus 20 Leuten, sagt er. Türken, Kurden, Italiener. Die Menschen schauten ihnen auf der Straße hinterher. Jemand rief etwas, es klang nicht freundlich. "Bis zu diesem Tag haben wir uns eigentlich als Teil von Deutschland gefühlt", sagt Erdal Aslan. Seine Eltern stammen aus Erzurum, einer Stadt im Osten der Türkei. 1969 kam der Vater als Gastarbeiter nach Wiesbaden, arbeitete bei der Sektkellerei Henkell, in einem Grillimbiss, betrieb am Ende sein eigenes Billard-Café. Er habe nie perfekt Deutsch gelernt, sagt Aslan. Aber einer der Lieblingssätze des Vaters sei folgender gewesen: "Babbel nicht so viel."

"Ich würde ihnen einen richtigen Kulturschock verpassen"

Die Eltern schickten Erdal Aslan auf das Gymnasium am Platz der Deutschen Einheit. Mutter und Vater hatten nur die Grundschule besucht, der Sohn machte Abitur. Heute arbeitet Aslan als Journalist. Sein Büro liegt direkt gegenüber von dem Hähnchen-Grill, den der Vater einst leitete. In der Türkei nennt man Leute wie Erdal Aslan "Almancı" - "Deutschländer". Nicht deutsch, aber auch nicht türkisch. Als der Vater starb, ließ er sich in der Türkei beerdigen. Damit sein Sohn nicht vergaß, woher seine Familie stammt.

Friedliche Revolution, Wiedervereinigung, Mauerfall. Aslan weiß, dass das deutsche Geschichte ist. Aber es ist nicht seine. Wenn sie hier, im Wiesbadener Westend von Einheit sprechen, geht es um etwas anderes. Hundert Nationen leben in dem Viertel zusammen. Es ist der am dichtesten besiedelte Stadtteil Deutschlands. Was der dünn besiedelte Osten bräuchte, wäre Zuwanderung, glaubt Aslan. Auch durch Menschen wie ihn. Nirgendwo in Wiesbaden gibt es so wenige AfD-Wähler wie im Westend. Falls sich doch ein "besorgter Bürger" hierher verirrte, er würde ihn in die Moschee mitnehmen, in die türkischen Teestuben, ins kurdische Restaurant. "Ich würde ihnen einen richtigen Kulturschock verpassen", sagt Aslan und lacht.

Den Alltag im Viertel beschreibt er als "friedliche Koexistenz". Als die deutsche Mannschaft bei der Fußball-EM 2016 ins Halbfinale einzog, blockierten Hunderte Menschen eine der Straßen am Platz der Deutschen Einheit. Es gibt ein Video aus dieser Nacht: Die Leute schwenken Deutschlandflaggen, setzen sich auf den Asphalt und springen auf Kommando hoch. Kurden, Türken, Bulgaren, Deutsche, sie singen "Humba Humba Täterä."

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