Massenhafter Zustrom:Was die Flüchtlinge für den deutschen Alltag bedeuten

Massenhafter Zustrom: Wohnräume schaffen.

Wohnräume schaffen.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

800 000 Flüchtlinge werden in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Was heißt das für die Schulen? Für die Justiz? Und für das Gesundheitssystem?

Wohnen:

Sie leben in Containern, Zelten oder ehemaligen Baumärkten. Bei den kommunalen Quartiermeistern sind Turnhallen als provisorische Unterkünfte für Flüchtlinge besonders beliebt - einerseits: Hier gibt es Toiletten, Waschbecken, Duschen. Andererseits spüren die Bürger dort besonders, dass sie zusammenrücken müssen. Zum Beispiel, wenn Trainingsstunden der Vereine ausfallen.

Anders geht es kaum: 200 Flüchtlinge muss eine Stadt wie das badische Freiburg jeden Monat unterbringen, bald werden es 350 sein. Etliche von ihnen sollen in die lange als Uni-Bibliothek genutzte alte Stadthalle ziehen. Vom Vorsatz, Flüchtlinge zwecks besserer Integration in kleinen Wohneinheiten unterzubringen, hat sich der zuständige Bürgermeister Ulrich von Kirchbach (SPD) längst verabschiedet: "Wir müssen groß denken." Wohncontainer etwa bestellt die Stadt auf Verdacht - bei der derzeitigen Nachfrage sind fünf Monate Lieferzeit normal.

Gerade in den Großstädten wird es immer schwieriger, Platz zu finden. Und teurer: In Berlin verzehnfachten sich die Unterbringungskosten pro Flüchtling binnen fünf Jahren - von knapp 800 auf mehr als 8000 Euro. Hauptgrund: Was als Unterkunft genutzt wird, muss oft aufwendig instand gesetzt werden. Dabei hat das Bundesbauministerium bereits viele Vorschriften für die Errichtung von Unterkünften gelockert, außer beim Brandschutz. Doch müssten in manchen Bundesländern für neue Wohnheime immer noch Autostellplätze nachgewiesen werden, klagt der Deutsche Städte- und Gemeindebund: "Es ist ein Irrsinn." Mit einem neuen Gesetz will der Bund nun weitere bürokratische Hürden aus dem Weg räumen.

Vor allem leiden die Kommunen darunter, dass die Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder längst überquellen: 45 000 Plätze gibt es, mindestens 150 000 wären nötig. Und damit endet das Problem nicht. Gerade in Ballungsräumen bleiben Flüchtlinge viel zu lange in den Heimen, weil sie auf den angespannten Immobilienmärkten kaum günstige Wohnungen finden. Der Bund will nun prüfen, wie er den sozialen Wohnungsbau ankurbeln kann. Laut Bauministerin Barbara Hendricks (SPD) müssten jedes Jahr 350 000 Wohnungen gebaut werden, 2014 waren es 200 000.

Text: Jan Bielicki

Nachwuchs für Schulen

Massenhafter Zustrom: Kinder integrieren.

Kinder integrieren.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Schule

Sie heißen Begrüßungsklassen, Willkommensklassen, Übergangsklassen, internationale Vorbereitungsklassen - die Namen unterscheiden sich, das Ziel ist gleich: Junge Flüchtlinge, die nicht oder kaum Deutsch sprechen, sollen im Schulsystem ankommen - um möglichst schnell in reguläre Klassen zu wechseln. Meist ist der Schulbesuch nach drei Monaten vorgesehen, oder sobald die Erstaufnahmeunterkunft verlassen wird. Für Deutschlands Schulen mit ihren seit Jahren rückläufigen Schülerzahlen bringt das Nachwuchs - auf das Gesamtsystem gerechnet aber überschaubar.

Elf Millionen Schüler sitzen hierzulande in Klassenzimmern. Von den 800 000 in diesem Jahr erwarteten Flüchtlingen, dürften gut 250 000 minderjährig sein. Bayern erhöht die Zahl seiner Übergangsklassen darum zunächst um ein Viertel, auf knapp 500, auch an beruflichen Schulen gibt es Hunderte. Da die Schüler in bestehende Strukturen eingebettet sind, lässt sich der Finanzbedarf kaum ermitteln. Rein statistisch verursacht ein Schüler pro Jahr Kosten von etwa 6500 Euro. In vielen Ländern bessern die Regierungen bei den Lehrerstellen nach. Manche Schulen, die bisher schrumpften, werden durch die Neuankömmlinge wohl in ihrer Existenz gerettet; an anderen wird es eng.

Doch Lernen ist mehr als ein Platz auf der Schulbank, die meisten Lehrer haben keine Erfahrung mit einer derart vielfältigen Schülerschaft. Ein bayerischer Hauptschullehrer berichtet: "Die Bandbreite geht von echten Analphabeten, die nie in einer Schule waren und bisher nur Schafe gehütet oder anderweitig gearbeitet haben, bis hin zu Kindern mit gymnasialer Eignung, die zwei, drei Sprachen sprechen, aber eben kein Deutsch."

Für Flüchtlinge, die bereits höhere Bildungsgänge einschlugen oder studierten, zeigen sich Hochschulen recht offen. Viele Unis nehmen Asylbewerber ohne klaren Status kostenfrei als Gasthörer auf, es gibt Stipendien und spezielle Beratung. Außerdem verspricht man, bei der regulären Zulassung flexibel zu sein - etwa wenn Zeugnisse bei der Flucht verloren gingen.

Text: Johann Osel

Zehn Milliarden allein für 2015

Massenhafter Zustrom: Kosten tilgen.

Kosten tilgen.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Geld

Es wird mit Hunderttausenden Flüchtlingen gerechnet, und wenn es um die Kosten für deren Versorgung geht, mit Milliarden Euro. Die meisten Schätzungen gehen so: 800 000 Flüchtlinge erwartet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Verlauf dieses Jahres, ein Flüchtling kostet überschlägig 12 500 Euro im Jahr - macht zusammen zehn Milliarden allein für 2015. Doch in dieser Rechnung stecken grobe Ungenauigkeiten: Wie lange ein Asylbewerber wirklich bleibt und Unterstützung braucht, wie sich Unterbringung, Lebensmittel, Gesundheitsversorgung und soziale Betreuung genau in den öffentlichen Haushalten aller Ebenen niederschlagen, ist kaum auf Euro und Cent zu berechnen.

Es gibt Anhaltspunkte: So haben die Länder, Städte und Landkreise 2014 für Unterbringung und Lebensunterhalt von Flüchtlingen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz 2,4 Milliarden Euro ausgegeben. Bedacht wurden laut Zahlen des Statistischen Bundesamts zu Anfang des Jahres 225 000 und am Jahresende 363 000 Leistungsempfänger. Dazu gehören Asylbewerber, deren Verfahren noch laufen, aber auch solche, deren Antrag abgelehnt wurde, die aber noch im Lande leben. Rechnet man also grob mit 300 000 Leistungsempfängern im Schnitt des vergangenen Jahres, kommt man auf 8000 Euro pro Flüchtling.

Allerdings bildet dieser Betrag nicht alles ab, was gezahlt wird. Es kommen Deutschkurse hinzu, Sozialberatung, Personal- und Sachkosten. Das bayerische Sozialministerium kalkuliert mit etwa 1300 Euro, die der Freistaat monatlich für jeden Asylbewerber ausgibt, also etwa 15 600 Euro im Jahr.

Dazu kommt: Nach ihrer Anerkennung erhalten Flüchtlinge, die keine Arbeit finden, Hartz-IV-Leistungen. Mit 240 000 bis 460 000 zusätzlichen Hartz-IV-Empfängern kalkuliert das Bundesarbeitsministerium, was den Bund bis zu 3,3 Milliarden Euro kosten könnte. Die Berliner Koalition will im nächsten Jahr drei Milliarden Euro zusätzlich in den Bundeshaushalt einplanen, und zudem den Ländern und Kommunen mit weiteren drei Milliarden zu Hilfe kommen. Das sei bei Weitem nicht genug, sagen die. Allein Nordrhein-Westfalen rechnet damit, 2016 etwa 2,6 Milliarden Euro für die Unterbringung von Flüchtlingen ausgeben zu müssen, 13-mal mehr als 2014.

Text: Jan Bielicki

Engpass könnte bei Sprachkursen noch bevorstehen

Massenhafter Zustrom: Die Sprache lehren.

Die Sprache lehren.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Sprache:

Wer langfristig bleibt, soll möglichst schnell die deutsche Sprache lernen und mit dem Land vertraut werden. Neben privaten Initiativen dienen hierzu vor allem die Integrationskurse des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Seit 2005 bietet das Amt jedem anerkannten Flüchtling einen solchen Kurs. Organisiert wird er von Volkshochschulen, privaten Sprachschulen oder kirchlichen Trägern und beinhaltet in der Regel 600 Schulstunden Deutschunterricht und 60 Stunden, in denen Kenntnisse zu Staat und Gesellschaft vermittelt werden. Ziel ist ein Sprachniveau, mit dem sich der deutsche Alltag bewältigen lässt.

Mehr Flüchtlinge bedeuten mehr Schüler in den Kursen: Nahmen 2014 noch 142 000 Menschen teil, rechnet das Bamf in diesem Jahr mit 180 000 Neuteilnehmern, 2016 sogar mit deutlich mehr als 200 000. Darunter befinden sich auch Spätaussiedler, integrationsbedürftige Deutsche sowie EU-Ausländer, den Großteil machen jedoch Geflohene aus. Die Träger reagieren auf deren Zuwachs mit mehr Kursen, wofür sie wiederum mehr Lehrkräfte benötigen. Das Bamf hat deshalb vor Kurzem die Hürden für deren Zulassung gesenkt. Seitdem dürfen etwa auch Deutschlehrer aus Schulen die Kurse leiten, ohne vorher eine aufwendige Zusatzausbildung absolvieren zu müssen.

Die hohen Teilnehmerzahlen machen sich auch in den Kosten der Kurse bemerkbar: Gab das Bamf 2014 noch 244 Millionen Euro dafür aus, sind für 2015 bisher 269 Millionen Euro vorgesehen. 2016 werden die Kosten weiter deutlich steigen. Gleichzeitig betont man beim Bundesamt aber, dass kein Mangel an Kursplätzen bestehe. In der Regel komme ein Integrationskurs innerhalb von drei Monaten nach Anmeldung zustande.

Ein Engpass könnte aber noch bevorstehen. Zu den Kursen werden bisher nämlich nur anerkannte Flüchtlinge zugelassen. Um eine schnellere Integration zu ermöglichen, haben sich Bund und Länder jedoch im Juni darauf verständigt, die Kurse künftig auch für Asylsuchende und Geduldete mit guter Bleibeperspektive zu öffnen. Sie sollen bereits vor Ende ihres Asylverfahrens einen Sprachkurs besuchen dürfen.

Text: Denis Schnur

Was Arbeitgebern und Flüchtlingen noch im Weg steht

Massenhafter Zustrom: Den Arbeitsmarkt öffnen.

Den Arbeitsmarkt öffnen.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Arbeit:

Asghar Djafari hat eine Lehrstelle gefunden. Der 22-Jährige, mit 16 Jahren allein aus Afghanistan geflohen, lernt Maschinen- und Anlagebauer bei einer Firma in Köln. "Ich war beeindruckt von seinem Lebenslauf", sagt sein Chef Boris von Wisotzky, "und von seinem Drang, den Job haben zu wollen." Er ist nicht allein mit seiner Freude über Flüchtlinge wie Djafari. 597 000 freie Stellen verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit Ende August, da kommen die Neuankömmlinge, drei Viertel im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 65, gerade recht. Theoretisch jedenfalls. Tatsächlich steht Arbeitgebern und Flüchtlingen noch einiges im Wege.

Dabei hat die Politik Flüchtlingen die Arbeitsaufnahme deutlich erleichtert. Bereits nach den ersten drei Monaten im Land dürfen Asylbewerber arbeiten, jedoch nur bedingt: Wenn die Ausländerbehörde zustimmt und die Bundesagentur geprüft hat, ob nicht ein Deutscher oder arbeitsberechtigter Ausländer die Arbeit machen kann. Diese Frist gilt 15 Monate, sie dauert Arbeitgebern oft zu lange. Für Fachkräfte gibt es diese Vorrangprüfung nicht mehr, anerkannten Flüchtlingen steht der Arbeitsmarkt ohnehin offen.

Das größte Problem jedoch ist die Qualifikation der Ankommenden. Darüber wissen die deutschen Behörden nur wenig. Laut Stichproben hat jeder achte bis zehnte Asylbewerber einen Hochschulabschluss, bis zu zwei Dritteln haben aber keine abgeschlossene Berufsausbildung. Unter Syrern ist das Bildungsniveau im Schnitt wohl etwas höher, dafür können die wenigsten von ihnen Deutsch. Und es hakt oft im Detail: Welches ausländische Zeugnis, welche Berufsausbildung wird anerkannt? Die Bundesagentur versucht, mit Modellprojekten unter dem Titel "Early Intervention" Flüchtlinge auf den deutschen Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Langfristig, so kalkuliert das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), kommen etwa 55 Prozent der Flüchtlinge in Arbeit. Kurzfristig ist die Quote der Erwerbstätigen unter ihnen deutlich geringer. Bei in Deutschland lebenden Syrern betrug sie Ende 2014 gerade 16 Prozent, die Arbeitslosenquoten schwanken bei Zuwanderern aus den Krisenstaaten des Nahen Ostens zwischen 23 und 54 Prozent. Allerdings sehen Berechnungen des IAB auch bei hoher Zuwanderung nur geringen Einfluss auf die Höhe von Löhnen und Arbeitslosigkeit in Deutschland.

Text: Jan Bielicki

Flüchtlinge als Jobmaschine

Massenhafter Zustrom: Mit der steigenden Flüchtlingszahl steigt der Verwaltungsaufwand.

Mit der steigenden Flüchtlingszahl steigt der Verwaltungsaufwand.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Verwaltung:

Die Flüchtlinge in Deutschland sind eine Jobmaschine. Der Bund sucht Hunderte Asyl-Entscheider, die Bundespolizei 3000 neue Kollegen. Die Bundesregierung kann sich das leisten. In Rheinland-Pfalz sind die Kassen dagegen ziemlich leer, eigentlich müsste man am Personal sparen, nun aber muss aufgestockt werden. 110 zusätzliche Polizisten sollen jetzt Dienst tun, allesamt Männer und Frauen aus dem Polizeidienst, die im Pensionsalter sind, aber noch arbeiten mögen. Nachwuchs gibt es nicht über Nacht: Polizisten werden drei Jahre ausgebildet.

Bei Lehrern sieht sich die rot-grüne Regierung gut gerüstet, 240 zusätzliche Stellen gab es in diesem Jahr, mit der Zahl der Flüchtlinge steigt auch die Schülerzahl. Neue Sprachvermittler wurden eingestellt, sie unterrichten Deutsch, die Neuankömmlinge müssen so schnell wie möglich Deutsch lernen. In den bald sieben Erstaufnahmestellen braucht man dringend zusätzliche Betreuer. Spätestens nächstes Jahr muss man sich auch in Rheinland-Pfalz um die Betreuung minderjähriger, allein reisender Flüchtlinge kümmern. Städte und Gemeinden sind dafür zuständig, Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) verspricht Hilfe.

Die Kommunen, oft höchst verschuldet, sind im Wortsinn arm dran. Auch sie brauchen allesamt mehr Leute, die sie aus Haushaltsgründen eigentlich nicht einstellen dürften. Wolfgang Henseler ist Bürgermeister von Bornheim nahe Bonn. Dort leben 305 Flüchtlinge in Wohnungen und Containern, 154 sind in einer Turnhalle untergebracht. Henseler hat die Arbeit in der Verwaltung umorganisiert, aber das reicht nicht. Henseler hat zwei zusätzliche Mitarbeiter im Sozialreferat eingestellt, wo man sich dieser Tage vor allem um Asylbewerber kümmern muss. Aber Anliegen der Alteingesessenen dürften keinesfalls liegen bleiben, sagt er. Ein Architekt wurde engagiert, der sich um Wohnraum für Flüchtlinge kümmert, ein weiterer Hausmeister wurde angestellt, eineinhalb neue Stellen für Sozialarbeiter geschaffen. Was braucht Bornheim am nötigsten? "Ein offenes Ohr und Geld aus Berlin und Düsseldorf", sagt Henseler. Den Rest schaffe man schon selbst.

Text: Susanne Höll

Stark eingeschränkte medizinische Versorgung

Massenhafter Zustrom: Die gesundheitliche Versorgung verbessern.

Die gesundheitliche Versorgung verbessern.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Gesundheit

Als die gesetzlichen Krankenkassen kürzlich ankündigten, im kommenden Jahr die Zusatzbeiträge der Versicherten zu erhöhen, war der Grund für viele Internet-Kommentatoren schnell klar: Die medizinische Versorgung der Flüchtlinge sei gegenwärtig der große Kostentreiber im Gesundheitswesen. Das klingt zwar plausibel, ist aber weitgehend falsch. Denn Flüchtlinge ohne geklärten Aufenthaltsstatus sind nicht Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

So kommen denn auch nicht die Versicherten mit ihren Beiträgen für die Kosten der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern auf, sondern die Länder und Kommunen. Das gilt zumindest in den ersten 15 Monaten des Asylverfahrens. Danach werden Flüchtlinge in die GKV aufgenommen. Ebenso, wenn sie einen Aufenthaltstitel bekommen. In der Regel zahlen dann die Kommunen einen Teil der Beiträge, dafür stehen Flüchtlingen alle medizinischen Leistungen zur Verfügung, auf die auch ein gesetzlich versicherter Deutscher Anspruch hat.

Bis dahin aber sieht das Asylbewerberleistungsgesetz lediglich eine stark eingeschränkte medizinische Versorgung vor. Zum einen können sich Flüchtlinge in den ersten Wochen und Monaten grundsätzlich nur bei "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen" behandeln lassen. Zum anderen ist es ihnen nicht möglich, bei gesundheitlichen Beschwerden einfach zum Arzt zu gehen. Stattdessen müssen sie zunächst beim örtlichen Sozialamt einen Antrag auf Behandlung stellen, der dann vom Gesundheitsamt geprüft wird. Dieses Verfahren kann mehrere Wochen dauern - Hilfsorganisationen kritisieren das als unmenschlich.

Allerdings gibt es Bestrebungen, den Zugang von Flüchtlingen zu Ärzten zu verbessern. In Bremen, Hamburg und von Anfang 2016 an auch in Nordrhein-Westfalen erhalten Asylsuchende eine Gesundheitskarte und können mit ihr ohne behördliche Genehmigung zum Arzt gehen. Allerdings gelten in den ersten Monaten des Asylverfahrens auch hier nur eingeschränkte Notfall-Leistungen.

Text: Kim Björn Becker

Schleuser vor Gericht

Massenhafter Zustrom: Für Recht sorgen.

Für Recht sorgen.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Justiz:

Bisher konzentrieren sich die Probleme der Justiz auf wenige Brennpunkte - auf die südlichen und östlichen Grenzen der Bundesrepublik. Vor allem auf die Städte Passau in Niederbayern und die Orte rund um Bad Reichenhall in Oberbayern. Dort wird das Gros der Schleuser aufgegriffen, die Flüchtlinge zum Teil unter menschenunwürdigen Bedingungen nach Deutschland bringen. Während die Flüchtlinge auf ganz Deutschland verteilt werden sollen, ist das mit der juristischen Aufarbeitung der Schleuserkriminalität nicht möglich.

Die Ermittlungen und Strafverfahren gegen die Schleuser müssen am Ort der Tat, also in den Amts- und Landgerichten entlang der Grenzen geführt werden. Schon jetzt sind die Gerichte dort voll ausgelastet. Allein im kleinen Amtsgericht Laufen stehen über 100 Verfahren an, bisher macht das ein einziger Richter. In Passau wurden über 350 Schleuser festgenommen. In ganz Bayern sitzen über 700 ein, mehr als im ganzen Rest der Republik. Das alles muss abgearbeitet werden - von ein paar wenigen Richtern und Staatsanwälten. So hat das Amtsgericht Laufen am 1. September gerade mal eine halbe Richterstelle dazubekommen, um den Berg an Strafverfahren abzuarbeiten - während die Polizei längst aufgestockt wurde.

Gerade werden am Gericht die Fälle aus dem Juni und Juli abgearbeitet, die meisten Festnahmen aber gab es im August. Bei Ersttätern mit kleineren Schleusungen bis zu sechs, sieben Personen gibt es noch Bewährung, bei Massenschleusungen, sogenannten Viehtransporten, wird Haft verhängt, meist zwei bis drei Jahre. Wenn die Angeklagten zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, gehen die meisten zudem in Berufung - also noch einmal Arbeit für die Gerichte. Die Gefängnisse entlang der Grenze sind bereits voll, die Stadt Passau hat 75 Haftplätze, die 350 Schleuser hat sie auf die Haftanstalten in ganz Bayern verteilt.

Zum Personal- und Platzmangel kommen ganz praktische Probleme hinzu: Rund um Bad Reichenhall und Passau stehen ganze Wiesen voller beschlagnahmter Schleuserautos, meist alte Rostlauben, die nichts mehr wert sind. Die Polizeiinspektionen müssen immer mehr Flächen dazumieten, um die Wagen unterzubringen. Sie werden oft noch als Beweismittel gebraucht.

Text: Annette Ramelsberger

110 000 Flüchtlingskinder unter sechs Jahren

Massenhafter Zustrom: Kinder integrieren.

Kinder integrieren.

(Foto: Illustration Christine Rösch)

Kindertagesstätten:

Sie haben in ihrem kurzen Leben häufig nur Krieg und Angst erlebt, viele wurden sogar auf der Flucht geboren: Der Anteil an Säuglingen und Kleinkindern unter den in Deutschland lebenden Flüchtlingen ist hoch. Von Januar bis Juli 2015 verzeichnete das Bundesamt für Flüchtlinge 18 964 Erstanträge für Kinder zwischen wenigen Monaten und drei Jahren sowie 9635 Erstanträge für Vier- bis Sechsjährige. Das Familienministerium rechnet damit, dass bis Ende des Jahres rund 110 000 Flüchtlingskinder unter sechs Jahren hier leben.

Jedes Kind in Deutschland hat einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung - auch Flüchtlingskinder, sobald sie die Erstaufnahmeeinrichtung verlassen haben. Das stellt die Erzieher vor eine große Herausforderung. Nach einer repräsentativen Erhebung des Lehrstuhls für Sozialpädiatrie der TU München unter syrischen Flüchtlingen in einer Erstaufnahmeeinrichtung leiden 22,3 Prozent der Kinder unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Michael Deckert, Kita-Fachbereichsleiter vom Caritas-Verband Würzburg, kann aus dem Alltag erzählen: "Die Kinder spielen alle fröhlich im Garten, plötzlich fliegt ein Rettungshubschrauber über das Gelände in Richtung Uniklinik. Die deutschen Kinder gucken hoch, lachen und winken - und die syrischen verstecken sich oder rennen vor Angst schreiend ins Haus."

Eine Erweiterung der Erzieherausbildung befürwortet daher Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. "Wir müssen die interkulturelle Kompetenz der Erzieher schulen, zusätzlich brauchen wir aber auch Trauma-Spezialisten." Der Deutsche Städte- und Gemeindebund plädiert für den Aufbau von Experten-Netzwerken, in denen sich Erzieher Rat holen können. In Sachsen wird dies in einem Modellprojekt erprobt: Zehn Kitas erhalten im Programm "Willkommens-Kitas" der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung eine gezielte Beratung in Sachen interkulturelle Kompetenz. Das nutzt allen. Die Kinder lernen schneller Deutsch und leben sich besser ein, die Eltern finden Anschluss an andere Eltern und haben ihrerseits Zeit für Deutschkurse. Aber, so warnt der Städtebund: Die Kommunen schaffen das nicht alleine.

Text: Annette Zoch

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