Süddeutsche Zeitung

Marathonreisen:Rennen, wo alle dösen

Durch Zeugnisse babylonischer Bauwut, auf und ab an der Steilküste: Der Antalya-Marathon ist ein Lauf für Liebhaber.

Jochen Temsch

Und dann geht es auch noch bergauf: Die schroffe Steilküste von Antalya, ausgerechnet bei Kilometer 30, wenn sowieso der härteste Teil eines Marathons beginnt. Das ist der Punkt, an dem es weh tut. Der drohende Einbruch. Bis hierhin hat der Körper seinen Vorrat an Kohlenhydraten verbrannt.

Jetzt geht es ans Fett. Dazu muss mehr Sauerstoff in die Blutbahn. Das Atmen fällt schwerer. Die Steigung beginnt. Den Anblick des Hügels krönt ein Krankenwagen. Darüber flimmert heiße Luft in der Märzhitze. Die Sonne blendet, steht im Zenit. Kaum ein Lufthauch vom Meer. Das Blaulicht blitzt auf, die Sirene quäkt. Wahrscheinlich ist wieder jemand umgefallen.

Türkische Einsamkeit

Aber die Straße ist leer. Keine anderen Läufer, keine Zuschauer. Nur zwei stumme Helfer stehen am Straßenrand. Einer gähnt. Ein Köter humpelt über den sandigen Mittelstreifen. Die Zunge hängt ihm weit heraus. Das ist die Einsamkeit des Langstreckenläufers, türkische Version.

Der Antalya-Marathon: 42,195 Kilometer laufend durch das Zentrum des Nichtstuns an der türkischen Riviera. Das hier ist die meistbesuchte Ferienregion des Landes. Rennen, wo andere im Liegestuhl dösen, vom Zentrum der Wirtschaftsmetropole aus die Küste entlang, immer auf einer gesperrten, teils schnurgeraden Straße östlich in die Boomregionen Lara und Kundu, dann kehrt und den gleichen Schlauch zurück.

Das Alleinsein ohne anfeuernde Zuschauer muss man mögen, vor allem aber Baustellen und Hotels. In Lara und Kundu überbieten sich die Investoren in babylonischer Bauwut. Hier protzen zehnstöckige Tausend-Betten-Paläste für Pauschalurlauber mit bombastischen Portalen, Wachhäuschen wie bei einer Grenzüberschreitung, wuchtigen Auffahrrampen und aberwitzigen, mit bunten Rutschen gespickten, dem Strand vorgelagerten Pool-Landschaften.

Überragt werden diese Vergnügungsparks nur von sandfarbenen, oft noch leerstehenden Hochhäusern, die die gesamte Küste in verschiedenen Entstehungsstadien säumen und sich nach Antalya hin verdichten. Das erste türkische Wort, das der Neuankömmling lernt, weil er es überall auf Schildern liest, heißt "kiralik": zu vermieten.

Überall wird gegraben, mit Pressluft gehämmert und aufgemauert. Sogar das berühmte Hadrianstor, bei der Premiere des Antalya-Marathons 2006 noch markanter Startpunkt, ist bei der zweiten Auflage des Rennens wegen Bauarbeiten gesperrt.

Mit Hotel-Shuttles geht es ins Atatürk-Stadion, morgens um halb sieben, auf dem Rasen liegt noch Tau. Aufwärmrunden auf der Tartanbahn. Wummernde Discorhythmen. Deutsche Teilnehmer auf Fotosafari umzingeln scheu lächelnde Kenianer. Victory-Zeichen für die Digitalkameras. Sonnencremetuben kreisen, Schutzfaktor 30. Frauen mit Kopftüchern und Straßenkleidung machen sich bereit für ein paar Kilometer Volkslauf. Nicht alle tragen Turnschuhe.

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Stolz wehen die Halbmondfahnen

Aus den umliegenden Häusern hängen Halbmondfahnen. Man demonstriert Stolz auf diese Veranstaltung. Bislang gab es nur einen Marathon im Land der Fußballverrückten, das traditionsreiche Istanbuler Eurasia-Rennen. Jetzt gibt es auch Antalya. In seinem zweiten Jahr 2007 kommt der Marathon bereits auf 500 Starter, 900 weitere gehen die halbe Distanz an, dazu kommen 3000 Volksläufer - Teilnehmertendenz steigend. Für die dritte Ausgabe am 2.März 2008 rechnen die Veranstalter insgesamt mit etwa 7000 Startern. Dieses Mal winken Siegprämien in Höhe von 40.000 Dollar.

Die meisten Ambitionierten stammen aus türkischen Leichtathletikvereinen. Unter den Urlaubern liegen die Deutschen zahlenmäßig vorn. Das ist wichtig, denn hier geht es auch um einen anderen Wettbewerb: die Jagd nach Touristen. Ähnlich wie der Reiseveranstalter Tui seit fünf Jahren einen herbstlichen Mallorca-Marathon anbietet, hat Öger Tours den nach ihm benannten Antalya-Lauf als Besucherschleuse erkannt.

Mehr als eine Million Deutsche bringt Öger jedes Jahr an die Sonne. Der Frühjahrs-Marathon soll helfen, den Urlauberstrom auch auf die Vorsaison und die neuen Bettenburgen in Lara und Kundu zu lenken. Wörtlich umgesetzt ist dies mit der Marathonstrecke, die direkt in die Hotelexklave führt.

Der Startschuss! Und ein Gerempel. Mit südländischem Temperament drängen sich adoleszente Hitzköpfe an den Anfang des langen Weges. Die Erfahrenen gehen es gelassen an, zum Beispiel Uwe Cizinski aus Kiel. Der hat auch genug Luft, um während des Trabens ein Interview zu geben.

Ohne ihn und seine Frau Antje gäbe es diese Veranstaltung nicht. "Hier musste einfach ein Marathon her", sagt er und deutet mit locker schwingendem Arm in Richtung Meer, "das wussten meine Frau und ich in dem Moment, als wir die Schönheit Antalyas zum ersten Mal sahen." Seit 20 Jahren sind die Cizinskis dem Laufen verfallen.

Sie fliegen von Rennen zu Rennen um die Welt, organisieren mit ihrer Agentur Ceventours selbst Straßenläufe und Sportreisen. Aber die Umsetzung ihrer Idee - allein schon die ausdauernde politische Überzeugungsarbeit und der Hindernislauf durch die Behörden - war ihnen ein paar Nummern zu groß. Sie wandten sich an die einflussreichen Öger Tours, die die Sache mit Erfolg stemmten.

Weihrauch bei der Pastaparty

Bei der Pastaparty am Abend vor dem Start beweihräuchern sich dann auch Veranstalter, Tourismusoffizielle und Honoratioren gegenseitig mit Reden von gefühlter Ultramarathon-Länge, während die Läufer am noch nicht eröffneten Nudelbuffet mit den Füßen scharren - und die Cizinskis nicht etwa auf dem Podium, sondern draußen vor der Tür stehen. "Wir hoffen, mit dem Marathon lässt sich auch eine Brücke schlagen zwischen Türken und Touristen", sagt Antje Cizinski. Sie ist zuversichtlich, dass sich die Einstellung der Einheimischen langsam ändert und die Fitnesswelle aus Deutschland bald vollends an die türkische Riviera schwappt.

Aber im Moment herrscht Ebbe. Die gerade Straße nach Lara ist so abwechslungsreich wie eine Landebahn in der Wüste. Wie eine Fata Morgana tauchen die pompösen Quartiere auf. Der neueste Trend an der türkischen Riviera, dem Geschmack zahlungskräftiger Gäste aus Russland entsprechend, sind an Las Vegas erinnernde Themen-Anlagen, die unter anderem der Milliardär Roman Abramowitsch für seine Landsleute finanziert.

Dampfer, Kreml, Robin Hood

Es gibt ein Hotel in Form eines Passagierdampfers, einen Nachbau des Kremls, eine Burgkulisse à la Robin Hood, eine Imitation des venezianischen Dogenpalastes und demnächst noch ein Istanbul im Miniaturformat. Diese synthetischen Erlebniswelten muss der Tourist eigentlich nur noch verlassen, wenn er den Apollo-Tempel von Side oder die verwinkelte Altstadt Antalyas sehen will. Oder um den Kopf über die Verrückten zu schütteln, die bei der Hitze direkt an den Hotels vorbeilaufen - aber nicht jetzt, denn jetzt wird gegessen.

Dreimal täglich gibt es üppige Büffets - alles inklusive. Die freundlichen Kellner verziehen nicht einmal die Miene, wenn jemand morgens um halb zehn Uhr seinen ersten Raki bestellt. Aber sie haben ausgerechnet keine Bananen, das von Läufern geliebte Dopingobst. Dafür leckere Sesamkringel, frisch aus dem Ofen. An so etwas denkt man dann eben, wenn plötzlich auch noch eine Steigung kommt, bei Kilometer 30.

Die Beine sind schwer, die Knie pochen. Der Krankenwagen rast los, aber für jemand anderen. Kein Einbruch. Der Hügel ist geschafft! Und plötzlich tut sich ein Blick auf: das gleißende Meer und das Taurus-Gebirge, mächtige, bis zu 3000 Meter hohe, mit Schnee bedeckte Gipfel, die über dem Hitzedunst thronen.

Sie scheinen zu schweben, wie fliegende Berge - und ihre Schönheit verleiht Flügel. Das ist einer der Momente, für die ein Läufer läuft. Die kann kein Reiseveranstalter verkaufen.

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Quelle:
SZ vom 31.01.2008
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