Magersucht:"Ich mag deine Stampfer"

Überleben Magersucht

Magersucht bedeutet für die Betroffenen Selbstdiziplin, doch wenn die Zahlen das Leben regieren, verlieren sie die Kontrolle.

(Foto: Illustration: Jessy Asmus/SZ.de)

Ein Satz - und plötzlich war alles anders. Wodurch Magersucht entstehen und wie sich ein Teufelskreislauf entwickeln kann.

Überleben. Was bedeutet dieses Wort? Überstehen? Mit jedem Tag, jeder Stunde, Minute und Sekunde überleben wir etwas, egal was. Überleben heißt, etwas zu schaffen. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Meine Geschichte handelt von einem Thema, das jeder zu kennen meint: Ich habe eine Essstörung. Ich ernähre mich nicht von Essen, ich ernähre mich von Zahlen. Eine Gurke hat 49 Kilokalorien, ein Apfel 71 kcal, eine Pizza 800 kcal.

Ob Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating: Alles wird unter dem Begriff der 'Essstörung' zusammengefasst. Dieses Wort kann doch keiner mehr hören. Sofort tauchen abgemagerte Mädchen vor meinem inneren Auge auf, Bilder von Waagen, einem Maßband und den Magermodels von Heidi Klum. Bilder, die jeder kennt und doch keiner versteht. Wohlstandskrankheit, die Suche nach Aufmerksamkeit, Dummheit. Auch diese Begriffe verbinde ich mit dem Wort Essstörung. Und sie stimmen alle.

Essstörungen sind psychische Krankheiten. Sie drehen sich darum, entweder nichts oder zu viel zu Essen, Essen auszukotzen oder alles zusammen. Sie werden begleitet von einem falschen und verzerrten Körperbild, Angst vor Fett, Gewicht, Essen. Isolation, Depression, Hass auf den eigenen Körper und auf alle, die einen zum Essen zwingen.

Plötzlich war alles anders

Ich versuche euch zu erklären, was es für mich heißt, einen Tag zu überleben. Jedes Überleben beginnt mit einer Geschichte. Jede Geschichte ist anders. Meine Geschichte beginnt irgendwann vor vier Jahren mit einem einzigen Satz, unauslöschbar und tief eingebrannt in mein Gedächtnis: 'Ich mag deine Stampfer.'

Es war ein vielleicht witzig gemeintes Kompliment, einfach so dahergesagt. Sicher nicht dazu gedacht, mich zu verletzen. Ein einfacher Satz, bestehend aus vier Worten, eines davon ein Synonym für 'Beine'. Dicke Beine. Stampfer. Ich weiß noch genau, wie ich damals gequält lächelte und es äußerlich ignorierte, während sich innerlich zwei Fronten bildeten, die seither mein tägliches Überleben bestimmen. 'Stampfer?' 'Habe ich wirklich so dicke Beine?', 'Das war doch nur ein Kompliment', 'Du kennst ihn doch, das sollte witzig sein', 'Denk dir nichts dabei'.

Aber ich dachte mir etwas dabei. Ich konnte nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Mein Body-Mass-Index (BMI) betrug irgendwas mit 19, war also ganz normal, sogar eher im unteren Bereich. Ich war nicht dick, ich hatte mich nie gewogen, immer gegessen, was ich gerade wollte, normal Sport gemacht, mich nie als zu dick empfunden.

Das alles war plötzlich anders.

Hier finden Sie Hilfe
Magersucht

Anorexia nervosa bedeutet im lateinischen Wortsinn Appetitlosigkeit. Das ist eine irreführende Bezeichnung, denn laut dem Online-Forum magersucht.de verspüren Magersüchtige meist einen sehr großen Appetit, verleugnen diesen aber. Magersucht ist eine osychische Störung aus dem Bereich der seelisch bedingten Essstörung. Sie ist durch das krankhafte Bedürfnis gekennzeichnet, die Nahrungszufuhr auf ein Minimum zu reduzieren um dadurch Gewicht zu vermindern. Häufig sogar bis hin zur lebensbedrohlichen Unterernährung. Die Gedanken der Betroffenen drehen sich nur um die Themen Ernährung und Gewicht. Die Kranken nehmen sich trotz ihres Untergewichts als zu dick wahr. Magersucht die höchste Sterblichkeitsrate von allen psychischen Erkrankungen - bis zu 15 Prozent der Erkrankten sterben daran.

Bei der anonymen Telefonberatung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finden Sie Hilfe. Oder bei den Online-Beratung von Anad oder Cinderella - Beratungsstelle für Essstörungen. Weitere Informationen finden Sie auf der Website vom Bundesfachverband Essstörungen.

Meine Psyche kämpfte ums Überleben

Ich hatte sowieso Probleme zu dieser Zeit. Ich fühlte mich in allen Bereichen unter Druck gesetzt. Ich hatte Liebeskummer, Streit mit Freunden und der Familie, ich sah keine Zukunft. Kurz gesagt: Meine Psyche kämpfte ums Überleben und suchte nach Halt, einem Anker, irgendwas, womit sie mein zerrüttetes Leben wieder kleben konnte.

Das Problem mit dem Essen hat sich schleichend entwickelt. Ich suchte einen Ausweg aus meiner Situation, ich wollte, dass mein Umfeld sieht, wie verletzlich ich bin und dass man mich schont, mich nicht mehr unter Druck setzt, sich bemüht, mir zu helfen. Mir den Druck zu nehmen.

Ich sah nur einen Weg, wie ich das erreichen konnte: Ich musste diese Stampfer loswerden. Meine Stampfer. Denn dünn ist gleich zerbrechlich. Also hörte ich auf, zu frühstücken. Ein Apfel reichte mir drei Tage. Ich raspelte immer eine Apfelseite, damit es nach mehr aussah und meiner Familie nicht auffiel. Den Rest des Apfels versteckte ich ganz hinten im Kühlschrank.

Die Zahl auf der Waage bestimmte mein Leben

Mittags aß ich eine Vollkornsemmel, Kaffee trank ich nur noch schwarz. Jeden Abend ging ich ins Fitnessstudio. Wenn ich nachts vor lauter Selbsthass nicht weinte, quälte ich meinen Körper mit unzähligen Hampelmännern. Die Zahl auf der Waage bestimmte morgens, ob der Tag gut oder schlecht werden würde. Ich sagte Freunden ab, weil ich Angst hatte, dass ich essen musste. Ich kannte alle Nährwertangaben auswendig. Wusste, was ich sagen musste, damit niemand nachfragte. Ich war nur noch glücklich, wenn ich wenig gegessen hatte oder die Zahl auf der Waage kleiner wurde.

Das sind nur einige Beispiele dafür, wie mein Leben seither aussieht. Ich war seit Jahren nicht mehr beim Bäcker, dabei habe ich früher nichts mehr geliebt als Donuts und Schoko-Croissants. Der Gang in den Supermarkt entwickelt sich jedes Mal aufs Neue zu einer Tortur. Ich schaffe es, eine halbe Stunde vorm Regal zu stehen und die Knäckebrot-Nährwerte zu vergleichen. 43 kcal pro Scheibe. Das andere 45 kcal. Okay, wie sieht es mit der Fettverteilung aus? Und die Kohlenhydrate? Wie viel Zucker hat es? Wenn ich mir vornehme, Spaghetti zu kochen, verlasse ich das Geschäft doch wieder mit Magerquark, Gurken oder Karotten. Oder mit nichts.

Das Leben stellt sich mir als Hindernis in Form von sozialen Kontakten entgegen. Keiner durfte etwas merken, niemand durfte wissen, welchen Überlebenskampf ich innerlich ausfocht. Tag für Tag aufs Neue. So lernte ich zu lachen, fröhlich zu sein, Spaß zu haben. Ich aß fettige Burger und Kuchen, tat so, als würde es mir schmecken und als könnte ich die Stimme in mir nicht hören, die mich in Dauerschleife anschrie, wie unfassbar undiszipliniert und schwach ich doch sei.

Lachen und Weinen im Sekundentakt

Es war eine Spirale, ein Teufelskreis. Ich weinte und lachte im Sekundentakt. Ich wusste nicht weiter, fand keinen Ausweg, wollte keinen Ausweg, wollte dünn sein. Wollte immer nur dünn sein. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf dieser Welt. Ich wusste, dass es dumm war, aber ich konnte nichts gegen meine Gefühle tun. Und dass ich so dumm war, schürte die Wut auf mich selbst nur noch weiter.

Heute sieht man mir meine Krankheit nicht mehr so an wie damals. Ich habe irgendwann unter dem Deckmantel, irgendetwas ändern zu müssen, zu gesunder Ernährung gefunden. Mit ausgewogener Ernährung konnte ich mich besser anfreunden als mit der Tatsache, durch mein Verhalten auch noch meine übriggebliebenen Freunde zu verlieren. Denn die Essstörung hat auch mein Benehmen und meine Denkweise verändert.

Ich stehe dauerhaft unter Spannung, auch wenn zeitgleich eine grenzenlose Leere mein Leben bestimmt. Ein falsches Wort bringt meine Stimmung zum Kippen, niemand versteht meine Wut- und Heulausbrüche. Wie denn auch? Ich verstehe sie selbst nicht. Auch dadurch schüre ich den Hass gegen mich selbst weiter.

Ich schäme mich, um Hilfe zu bitten

Seitdem hungere ich, wenn ich alleine bin, und esse zu viel, wenn ich es nicht bin. Es gleicht sich irgendwie aus und ich überlebe, aber die Gedanken sind immer da. Ich habe meine Freude am Essen verloren. Ich weiß, dass ich da alleine nicht mehr rauskomme, aber schäme mich zu sehr, um Hilfe zu bitten. Niemand weiß, dass mein Gewicht und mein Körper an erster Stelle stehen. In Gesellschaft vergleiche ich mich mit anderen. Es gibt kein hübsch mehr, nur noch dick oder dünn. Neid, wenn jemand dünner ist, und Stolz, wenn ich dünner bin.

Mit jedem psychischen Rückschlag werden die Stimmen im meinem Kopf stärker. Ich lebe in einem ständigen Kampf von Aufhören und Weitermachen. Ich weiß, dass der Weg, den ich gehe, der falsche ist. Aber einen Ausweg finde ich nicht. Ich habe große Angst, diese Gedanken jemandem mitzuteilen. Angst davor, ausgelacht und nicht verstanden zu werden. Denn Essstörungen, wie gegenwärtig sie in der Gesellschaft auch sein mögen, sind meiner Meinung nach immer noch unterschätzt und falsch verstanden. Man muss die alles verursachende Wurzel ziehen, um die Krankheit zu überleben. Und das ist eine Aufgabe, für die es weder Anleitung noch Lösung gibt.

Meine Geschichte ist nur ein kleiner Ausschnitt an Gedanken und Gefühlen. Die Wirklichkeit ist umfangreicher. Und schlimmer. Ich habe mich nie gefragt, was sein wird, wenn ich endlich dünn genug wäre. Ob es etwas an meinen Gefühlen ändern würde. Es fällt mir schwer, zu akzeptieren, dass ich so nicht für immer überleben kann. Dass sich irgendwann etwas ändern muss. Aber die Scham ist zu groß. Die Scham ist das Schlimmste.

Wie können mich solche Gedanken so sehr quälen, wenn auf der Welt so viel Schlimmeres geschieht und es anderen so viel schlechter geht als mir? Wie kann ich so egoistisch und dumm sein? Das ist die Frage, mit der ich abends zu Bett gehe und morgens wieder aufwache. Wenn meine Finger dabei zu meinem Hüftknochen wandern, sachte über ihn tasten, in den Speck zwicken und ich mir nichts mehr wünsche, als endlich dünn zu sein. Und nicht mehr so egoistisch und dumm.

Weil ich weiß, dass ich so nicht für immer leben kann, dass ich irgendwann an den Punkt kommen werde, an dem es weder vor noch zurück gibt, muss ich etwas ändern. Die einzige Möglichkeit ist es, mich mit der Wurzel auseinanderzusetzen und mich jemandem anzuvertrauen. Sei es ein Familienmitglied oder eine fremde Person. Freunde oder ein Psychiater.

Der erste Schritt ist getan: Ich habe selbst eingesehen, dass ich etwas ändern muss und dass ich Hilfe brauche. Es gibt Hilfe, ich muss sie nur annehmen, ich muss es wollen. Nur so kann ich überleben.

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Die Autorin, 24, studiert in München Kommunikationswissenschaften und möchte anonym bleiben.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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