Millionen Frauen erheben jetzt ihre Stimme. Unter dem Hashtag #Metoo posten sie, wie sie von Männern bedrängt, begrapscht oder sogar vergewaltigt wurden. Es gibt nicht nur einen Weinstein, sagen diese Frauen. Es gibt Millionen Weinsteins auf der ganzen Welt. Es gibt sie nicht nur im "System Hollywood", dessen Struktur Abhängigkeitsverhältnisse schafft und Ausbeutung begünstigt. Die Weinsteins lauern in der U-Bahn, auf dem Oktoberfest, im Ausbildungsbetrieb - und mitunter sogar in der eigenen Wohnung.
Die Frauen, die sich jetzt öffentlich äußern, stoßen eine Debatte an. Sie schaffen ein Bewusstsein dafür, dass grundlegend etwas nicht stimmen kann, wenn sexuelle Übergriffe zum Alltag gehören.
Und was tun die Männer?
Viele lesen sich die Einträge in den sozialen Medien durch. Viele hören sich an, was Kolleginnen auf der Arbeit dazu zu sagen haben. Viele sind schockiert und fragen ungläubig, ob wirklich jeder Frau solche Dinge schon einmal passiert sind.
Aber da ist oft auch eine innere Distanz. Wenn man denkt: Schon wieder dieses Thema. Haben wir darüber nicht schon genug berichtet? Es gab doch vor vier Jahren den #Aufschrei, warum brauchen wir jetzt noch #MeToo? Und überhaupt, was habe ich damit zu tun? Ich bin kein Weinstein. Ich kenne auch keine Weinsteins.
Gerade Männer, die für sich in Anspruch nehmen, aufgeklärt zu sein und "auf der richtigen Seite" zu stehen, fühlen sich zu unrecht verdächtigt in der jetzigen Debatte. Sie denken, Moment mal, ich bin anders. Ich bin niemals gewalttätig. Ich trete allen Frauen, denen ich im Alltag begegne, mit Wertschätzung und Anstand entgegen. Mit meiner Partnerin teile ich mir Arbeit, Hausarbeit und Kindererziehung. Ich reduziere Frauen nicht auf ihr Äußeres, erst recht nicht im beruflichen Umfeld. Von mir gibt es keine sexistischen Kommentare zu hören und ich finde die platten Geschlechterklischees bescheuert, die Comedians wie Mario Barth verbreiten.
Das Problem ist: Selbst wenn das alles stimmt - ein Ausruhen auf der "Ich-bin-aber-doch-anders"-Position reicht nicht. Männer müssen sich endlich bewusst machen, dass sexuelle Gewalt keine Ansammlung von Einzelfällen ist. Es geht nicht um ein paar bad guys, die sich nicht an die Regeln halten. Es geht um ein strukturelles Problem in einer Gesellschaft, die seit Jahrhunderten auf einem Machtungleichgewicht zwischen Frauen und Männern gegründet ist. Diese Gesellschaft begünstigt sexuelle Gewalt. Zum Beispiel dadurch, dass angenommen wird, dass Männer eben "von Natur aus triebgesteuerte Wesen" seien.
Um diese Kultur zu verändern, müssen die Männer aktiv werden und bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegen sexuelle Gewalt, gegen Diskriminierung und gegen Ungleichbehandlung aufbegehren. Sie müssen aufhören, diese Phänomene als "Frauenprobleme" zu begreifen, die sie nichts angehen. Joe Biden, der frühere US-Vizepräsident, hat dieser Tage damit angefangen. "Schweigen ist Mittäterschaft", hat er gesagt und er hat recht. Einige männliche Twitter-User haben sich daran ein Beispiel genommen und schreiben unter dem Hashtag #HowIwillchange, dass sie ihre Ignoranz ablegen wollen. Sie haben erkannt, dass es nicht die Aufgabe von Frauen sein kann, Männer daran zu erinnern, dass sexuelle Übergriffe nicht in Ordnung sind.
Alles ist besser als gar nichts zu sagen
Was bedeutet das nun konkret? Es bedeutet zum Beispiel, einer Freundin oder Bekannten beizustehen, wenn sie angegangen wird - und zwar nicht nur bei einem körperlichen Angriff, sondern auch bei einem angeblichen Kompliment, das sich als Sexismus entpuppt.
Zugegeben, das ist ein schmaler Grat. Es gibt Männer, die fälschlicherweise glauben, sie verraten damit ihren Chef, Kollegen oder Kumpel. Doch vielleicht ist derjenige, der die sexistische Äußerung gemacht hat, am Ende sogar dankbar, weil ihn mal jemand darauf hingewiesen hat. Einige Männer befürchten auch, paternalistisch und übertrieben beschützerhaft rüberzukommen, wenn sie im Namen der Frau das Wort ergreifen. Aber sie können ihr die erste Entgegnung überlassen und sie dann unterstützen. Sie können ihre Haltung klarmachen und Empathie zeigen. Sie können die Frau fragen, wie sie die Situation empfunden hat, denn nicht jede Frau reagiert auf jeden Übergriff gleich und nicht jeder ist sofort bewusst, was sie da gerade erlebt hat. Wer sich ehrlich unsicher ist, sollte Fragen stellen. Alles ist besser, als gar nichts zu sagen.
Gegen Diskriminierung aufbegehren kann auch heißen, die Bemerkung eines Moderators geradezurücken, wenn der bei einer Podiumsdiskussion, wie neulich in Berlin geschehen, eine Referentin mit den Worten begrüßt: "Mit einer so schönen Dame hätte ich nicht gerechnet".
Fast noch wichtiger ist es aber, wie Männer untereinander über Frauen sprechen. Man muss nicht jeden dahingeworfenen Satz in der Umkleidekabine zum Anlass für eine Grundsatzdiskussion nehmen. Aber man kann schon mal einwerfen, dass man Witze über Vergewaltigungen deplatziert findet. Eventuelle hämische Kommentare, die dann folgen, sollte man aushalten.
Wo die Grenze ist, dafür ist das Bauchgefühl meist ein verlässlicher Indikator. Wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, kennen wir die Sätze, die unserem Wertekodex widersprechen und bei denen wir einschreiten müssen. Genauso wie jeder aufgeklärte Mann instinktiv weiß, ab wann er eine Anmache beenden muss. Es ist nicht verwerflich, mal an diese Grenze zu stoßen. Fast jedem ist das schon passiert. Aber es ist sexuelle Gewalt, sich über ein Nein - sei es laut ausgesprochen oder nonverbal zum Ausdruck gebracht - hinwegzusetzen. Das gilt auch dann, wenn das Gegenüber betrunken und nicht in der Lage ist, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen. Und wer seinen Kumpel dabei beobachtet, wie er sich über eine solche Grenze hinwegsetzt, hat ebenfalls die Pflicht einzuschreiten. Schweigen ist Mittäterschaft.
Der Kommunikationsberater Jackson Katz, der in den USA Vorträge hält und Firmenchefs, Sportmanager und Armee-Offiziere für sexuelle Diskriminierung sensibilisiert, hat die Wahrheit schon vor fünf Jahren ausgesprochen: Männer, mächtige Männer allemal, orientieren sich an dem, was andere mächtige Männer denken und sagen. Wenn Frauen ihnen entgegenhalten, sie seien sexistisch, nehmen sie das oft nicht ernst und tun es als überempfindlich ab. Traurig, aber wahr: Wenn Männer es ihnen sagen, hat es ein völlig anderes Gewicht.
Neue Formen der Männlichkeit vorleben
Das Ende von Sexismus und sexueller Gewalt ist keine Generationenfrage. Jetzt, da Harvey Weinstein entlassen ist, werden die Strukturen, die sein Verhalten begünstigten, nicht von selbst verschwinden. Jetzt, da Playboy-Gründer Hugh Hefner gestorben ist, wird das Frauenbild, das er mit seinem Lebenswandel kultivierte, nicht ebenfalls automatisch untergehen.
Eine moderne Gesellschaft braucht aufgeklärte Männer, die Vorbild sind und neue Formen der Männlichkeit vorleben. Männer, die sagen, dass es auch ihre Intelligenz beleidigt, wenn Frauen mit Häschenohren auf dem Kopf herumlaufen. Männer, die den oft - selbst von Frauen - formulierten Gedanken zurückweisen, sie seien eben ihren Trieben unterworfen. Männer, die den Kampf gegen sexuelle Gewalt auch zu ihrem Thema machen.
Wenn das gelingt, wird bei der nächsten #MeToo-Debatte kaum noch jemand schockiert und ungläubig sein. Es wird dann nicht mehr heißen: Ich bin kein Weinstein. Sondern: Ich habe etwas gegen die Weinsteins unternommen.