Lustfeindlichkeit in Japan:Lieber Karriere als Sex

Schlaf macht klug -Japanische Geschäftsleute bei einem Nickerchen

Karriere statt Liebe und Sex: In Japan ziehen nicht nur Männer ihren Job Ehe und Familie vor. Auch Frauen entziehen sich dem traditionellen Familienmodell.

(Foto: dpa)

Liebe ist zu kompliziert und karriereschädigend sowieso. Das findet ein Großteil der Japaner und hält sich deswegen nicht nur von Beziehungen fern, sondern sogar von Sex. Eine ehemalige Domina therapiert in Tokio jetzt Betroffene.

Sie haben keinen Sex mehr. Wie die britische Zeitung Guardian berichtete, ist für immer mehr Japaner das Sexleben vorbei, sie leiden unter "sekkusu shinai shokogun", dem Keuschheits-Syndrom. Da Japan sowieso schon eine der niedrigsten Geburtenraten weltweit hat, ist das für die Regierung so etwas wie eine nationale Katastrophe. Denn wenn das so weitergeht, soll laut Japans Nationalem Institut für Bevölkerungs- und Sozialsicherheitsforschung ("National Institute of Population and Social Security Research") bis 2060 die aktuelle Einwohnerzahl von 126 Millionen um ein Drittel schrumpfen.

Der japanische Verband für sexuelle Aufklärung ("Japan Association for Sex Education") hat in einer Studie detaillierte Daten über das Sexleben von japanischen Männern und Frauen gesammelt. Demnach sind 40 Prozent der weiblichen Studentinnen noch Jungfrau. 2011 fand der japanische Verband heraus, dass 61 Prozent der unverheirateten Männer und 49 Prozent der Frauen unter 34 keine intimen Beziehungen haben. Laut der japanischen Versicherungsgesellschaft "Meiji Yasuda" hatte ein Drittel aller Japaner unter 30 noch nie ein Date. Doch damit nicht genug: Wie der japanische Verband für Familienplanung (JFPA) mitteilte, sind 45 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer unter 24 noch nicht einmal interessiert an sexuellem Kontakt.

Yoga und Hypnose für mehr Lust auf Sex

Eine, die von der Enthaltsamkeit der Japaner profitiert, ist die ehemalige Domina Ai Aoyama. Als selbsternannte Sex- und Beziehungsberaterin will sie Betroffene in Tokio mit eigens entwickelten Therapieansätzen heilen, wie der Guardian berichtet. In Aoyamas Behandlungsraum steht nur ein großes Bett. Am Eingang des Gebäudes, in dem sie ihre Kunden behandelt, hat sie ein Schild mit "Klinik" angebracht. Die 52-Jährige kümmert sich um Japaner, die keinen Bezug zu ihren sexuellen Bedürfnissen haben. Das sei eine viel größere Herausforderung, als Menschen sexuell zu befriedigen, sagt sie. Als Domina habe sie "all die normalen Dinge" gemacht, wie ihre Kunden beim Sex zu fesseln oder heißes Wachs auf deren Brustwarzen tropfen zu lassen.

Jetzt hilft sie ihren Patienten dabei, die Verbindung zu ihrem Körper wiederzuentdecken, sagte sie dem Guardian. Manchmal ziehe sie sich dafür auch nackt aus. Natürlich nur zu Lehrzwecken. "Viele Menschen fühlen sich zum anderen Geschlecht gar nicht hingezogen. Wenn ich sie dann berühre, zucken sie zusammen", erzählt die 52-Jährige. Die meisten davon seien Männer. Yoga und Hypnose sind zwei ihrer Methoden, mit denen sie ihren Patienten den menschlichen Körper erklären will.

Die Ursachen für die Keuschheit der Japaner scheinen vor allem gesellschaftlich bedingt zu sein. Wie der Guardian schreibt, ist das japanische Beziehungsmodell seit jeher festgefahren: Der Mann soll das Geld verdienen und die Frau zu Hause bleiben. Japaner, die dieses Modell nicht erfüllen, glauben, mit ihnen stimme etwas nicht, sagte Aoyama der britischen Tageszeitung. Denn die konservativen Haltungen zu Hause und am Arbeitsplatz bleiben bestehen, obwohl in Japan Frauen und Männer mittlerweile aus ihren traditionellen Rollen herausgeschlüpft sind. Männer sind weniger karrieregetrieben, seit Jobs nicht mehr ein Leben lang sicher sind, Frauen werden ehrgeiziger und unabhängiger.

Wie der Guardian berichtet, ist es immer noch ungewöhnlich, dass unverheiratete Paare zusammenleben oder Kinder haben. Daher zögen die Japaner die "Pot Noodle love", wie Aoyama sie nennt, vor. Das seien kurze Affären, Pornos und Freundinnen in der virtuellen Welt.

"Die Ehe ist das Grab der Frau"

Viele Japaner wollen aus pragmatischen Gründen keine Beziehung eingehen. Ein altes japanisches Sprichwort besagt "Die Ehe ist das Grab der Frau". Früher galt das für Frauen, deren Männer eine Geliebte hatten. Heute gilt es für Frauen, die eine Karriere haben. Aus den persönlichen Geschichten erfolgreicher Japanerinnen, wie der von Eri Tomita, wird klar, warum. Dem Guardian gegenüber erklärte die 32-jährige Japanerin erklärt, dass sie früher einmal einen Heiratsantrag abgelehnt habe, weil ihr der Job wichtiger war und sie Angst hatte, als Hausfrau zu enden.

HOCHZEIT 2000

Junge Frauen und Männer in Japan sind lieber Single als verheiratet, um dem traditionellen Familienmodell zu entkommen.

(Foto: DPA)

Karriere und Familie sind in Japan demnach nicht unter einen Hut zu bringen. Zumindest glauben Japanerinnen das. Angesichts dessen, wie sie sich die Ehe vorstellen, ziehen 90 Prozent von ihnen das Singleleben vor. Wie die BBC berichtete, geben rund 70 Prozent der japanischen Frauen nach ihrem ersten Kind ihren Job auf. Gleichberechtigung der Geschlechter ist vor allem auf dem Arbeitsmarkt ein Fremdwort.

Wer keinen Sex hat, wird Pflanzenfresser genannt

Das Problem mit der Sexualität ist in Japan scheinbar so populär, dass die Medien für jedes soziale Phänomen einen eigenen Begriff finden. Heterosexuelle Männer, für die Beziehungen und Sex unwichtig sind, heißen "soshoku danshi", also Pflanzenfresser. Der 31-jährige Satoru Kishino ist so einer. Beziehungen hält er für zu mühselig und den Druck von Seiten einer Partnerin, die auf eine Hochzeit hofft, für zu groß. Kishino hat deswegen gelernt, ohne Sex zu leben.

Der neue Single-Trend in Japan hat laut des Bevölkerungswissenschaftlers Nicholas Eberstadt aber noch andere Gründe. Es gebe keine religiöse Autorität, die Ehe und Familie voraussetze, zudem verunsichere die Erdbeben-Gefahr im Land die Menschen zunehmend. Die hohen Lebenshaltungskosten sowie der zusätzliche finanzielle Aufwand für Kinder schreckten die Bevölkerung ebenfalls ab.

Auch der technische Fortschritt beeinträchtigt das Liebesleben der Japaner. Virtuelle Welt und Online-Kommunikation ersetzten die Realität, wie der japanisch-amerikanische Autor Roland Kelts, der ein Buch über die japanische Jugend schreibt, feststellt.

Die Sexberaterin Ai Aoyama hält diese Entwicklung für sehr ungesund. Menschen bräuchten körperlichen Kontakt, Sex sei ein menschliches Bedürfnis und produziere Wohlfühl-Hormone im Körper, sagt sie. Mit ihren Therapieansätzen will sie dafür sorgen, dass die Japaner dieses Gefühl kennenlernen und sich wieder danach sehnen.

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