Wäre er nur nicht nach Hause gekommen. Er hätte einfach im Büro bleiben sollen. Ralf konnte es förmlich riechen, als er die Wohnungstür aufschloss. Er war noch nicht einmal aus seinen Schuhen draußen, da ließ Sarah die Katze aus dem Sack: "Man müsste sich mal nach einem neuen Kleiderschrank umschauen". "Wen genau meinst du mit 'man'?" "Na, uns!", sagte sie ungeduldig. "Also mich!", antwortete er. "Das ist doch dasselbe". "Aber nein, ist es ganz und gar nicht! Du hast wieder irgendetwas beschlossen. Ohne mich zu fragen." "Hast du das alte Ding mal genauer angesehen?", schimpfte sie. "Die Kiste geht an allen vier Ecken auseinander." "Ich finde, du übertreibst." "Ach ja? Wenn dein Auto so aussehen würde, wärst du bereits hyperventilierend zusammengebrochen!" "Im Gegensatz zu einem Schrank muss ein Auto auch wichtige Funktionen erfüllen, mein Schatz. Es verbessert unsere Lebensqualität und sieht dabei auch noch gut aus." "Dasselbe konnte ich auch einmal über unseren Schrank sagen. Nur, weil DU dir nichts aus Klamotten machst, muss ich mich inzwischen mit diesem heruntergekommenen Holzverschlag begnügen!", keifte sie. " Wenn es nach dir ginge, könnten wir aus Bananenkisten ..." "Schon gut, schon gut! Beruhige dich. Lass uns beim Essen darüber reden."
Das war wieder typisch! Immer, wenn sie sich etwas in den Kopf setzte, machte sie es zu seinem Problem. Die meisten ihrer Botschaften rochen nach Arbeit und meinten immer nur eine Person: ihn. Den Knecht an ihrer Seite. Vergangene Woche war es der Keller ("Den müsste man endlich entrümpeln"), davor der Rasen ("Der gehört auch mal wieder gemäht"), nächste Woche würden es die Wände oder die Lampen sein. Irgendwas fiel ihr immer ein. Sicher durchstreifte sie die Wohnung auf der Suche nach Stellen, die seit mehr als zwei Wochen nicht verändert wurden.
Wenn er jetzt nachgab, würde er die nächsten Lichtjahre damit verbringen, durch Möbelhäuser zu pilgern. Der Akkuschrauber würde mit seiner Hand verschmelzen, sein Rücken würde sich bei jedem Baumarkt-Besuch ein wenig mehr krümmen, er wäre nurmehr ein Schatten seiner selbst - ein kaputter Typ, der an einem Kleiderschrank zerbrach. Das musste er verhindern.
Beim Abendessen versuchte er es mit Small Talk: "Hast du schon gehört? Uwe trennt sich von Annika." "Seit wann interessierst du dich für das Privatleben anderer Leute?", sagte sie und zeigte dabei drohend mit dem Messer in seine Richtung. "Du merkst doch nicht einmal, wenn deine eigene Ehe zerbricht!" "Äh ... an einem Schrank?", staunte er. "An deiner Ignoranz!", zeterte sie. "Statt dich um Uwes Beziehung zu kümmern, hättest du lieber mal besser aufpassen sollen, als er und Annika uns ihr Schlafzimmer gezeigt haben. Dann wäre dir auch nicht entgangen, dass dort ein supertolles Schranksystem steht - mit allem Drum und Dran." "Ach, daher weht der Wind", sagte Ralf, "nur, weil Uwe sich unterbuttern lässt und so einen Schnickschnack kauft, musst du das jetzt auch haben. Du hast ja gesehen, dass das ihre Ehe nicht retten konnte". "Eins kannst du mir glauben", fauchte Sarah, "unsere würde es retten!"
Wie ein Vampir, der Blut geleckt hatte ... Fortsetzung nächste Seite ...
Den Abend verbrachten sie schweigend. Sie aus Wut, er aus Angst, sie zu provozieren. Inzwischen war ihm klar, dass er nicht davonkommen würde. Wenn sich Sarah mal festgebissen hatte, konnte sie nichts mehr abschütteln. Je mehr er sich wehrte, desto vehementer würde sie ihn mit ihrer fixen Idee penetrieren. Sie war wie ein Vampir, der Blut geleckt hatte.
Am nächsten Morgen stellte Ralf sich erst mal tot: Er blieb mit geschlossenen Augen im Bett liegen und überlegte sich verschiedene Ausreden. Plötzlich spürte er ihren Atem im Gesicht. "Ich weiß, dass du wach bist. Deine Augenlider zittern", sagte die Stimme, die zum Atem gehörte. "Ich habe so ein Kratzen im Hals", krächzte er, "ich glaube, ich werde krank." "Da habe ich die perfekte Bettlektüre für dich: Möbelprospekte!", sagte sie und ließ einen schweren Stapel auf seinen Bauch fallen. "Du machst mich fertig", raunte er und wälzte sich zur Seite.
Allmählich ging Ralf die Nummer mit dem Schrank auf die Nerven. Hatten sie nicht genügend andere Probleme? Letzte Woche wurde er 50, Schalke war abgestiegen, und ihr Sohn wollte unbedingt ein Terrarium für Vogelspinnen zum Geburtstag. Das Letzte, womit er sich jetzt auseinandersetzen wollte, war ein Möbelstück, das in erster Linie schwer war. Schwer zu entsorgen und schwer aufzubauen. Und dann irgendwo in einer Nische herumstand.
"Ha! Jetzt sieh dir das an!", rief Sarah. "die Schiebetür hat sich schon wieder verkeilt." "Ja, weil du die Tür immer mit Gewalt auf- und zumachst", nuschelte Ralf in sein Kissen. "Probier doch, ob du es besser kannst - Schlaumeier!", keifte Sarah. Jetzt hatte Ralf genug. Er stand auf, packte die Tür mit beiden Händen und rüttelte wütend daran. Sie bewegte sich nicht. Er schob und zog, trat dagegen, bis sein Fuß schmerzte. "Hol das Beil!", schrie er. Aber Sarah begann bereits, ihre Kleider in Sicherheit zu bringen. Also ging Ralf es holen.
Es dauerte fünf Minuten, dann war der Schrank Geschichte. Was übrig blieb, war ein Haufen Holz in einer geräumigen Nische. "Jetzt hast du einen begehbaren Kleiderschrank", sagte Ralf trocken. "Wie bitte?", stammelte Sarah fassungslos und deutete auf die Reste. "Und was ist mit dem Gerümpel? Das müsste man erst mal zum Sperrmüll bringen, dann Regale anschrauben und die Wände neu streichen." Plötzlich hörte sie Ralf schwer atmen. Sie drehte sich um. "Sag mal, was willst du denn mit dem Beil?", schrie sie. "Ist ja gut, ich brauche keine neue Farbe. Vergiss das mit den Regalen. Und das mit dem Sperrmüll mache ich!"
Ralf ließ das Beil sinken, ging in die Küche und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. "Ach, weil du gerade dabei bist", sagte Sarah, "man müsste mal wieder den Kühlschrank abtauen. Was ich sagen will, ist: Ich. Ich müsste mal wieder ..."
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