Liebeslüge im Internet:Verliebt in einen Fake

Sie kommuniziert mit ihm über Facebook, teilt ihre geheimsten Gedanken mit ihm. Er schickt Fotos von sich, von Freunden, spricht von Liebe. Bis sie erkennt, dass der Mann, dem sie sich anvertraut hat, nicht existiert. Protokoll einer Liebeslüge.

Von Violetta Simon

Man kann Victoria S. als eine Frau bezeichnen, die im Leben steht: Kommunikationsdesignerin, Texterin, 45 Jahre alt, zwei Kinder. Hätte ihr vor einem Jahr jemand gesagt, dass sie einmal in eine solche Geschichte verwickelt werden würde, sie hätte nur den Kopf geschüttelt. So naiv kann man gar nicht sein, hätte sie geantwortet. Und gelacht. Inzwischen ist der Hamburgerin das Lachen vergangen. Und auch das unvoreingenommene Vertrauen in Menschen.

Der Kontakt zu der 45-Jährigen kommt nur auf Umwegen zustande, sie antwortet mit zwei Tagen Verzögerung auf die Interviewanfrage, nachdem sie sich sicher ist, dass "er" nicht dahintersteckt, mit einem fingierten Twitter-Account. "Er", das ist der Mann, den Victoria S. im Internet kennenlernte. Es ist der Mann, der sich ihr Vertrauen erschlich, sie manipulierte und monatelang belog. Der Mann, der mit geklauten, gefälschten Fotos, erfundenen Freunden und Familienmitgliedern eine Person erschuf, die es so nie gab - und in die sich Victoria dennoch verliebte.

Die zweifache Mutter ist sich durchaus des Risikos bewusst, eine Zielscheibe für Spott und Hohn abzugeben. Deshalb fiel es ihr zunächst schwer, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie weiß aber auch, dass viele Frauen sie verstehen werden. Und sie hat ein Ziel: Sie will dazu beitragen, dass "er" nicht mehr so weitermachen kann. Dass Männer wie er nicht mehr durchkommen mit dieser Masche. Deshalb hat sie ihre Geschichte in einem Blog veröffentlicht, unter dem Titel "Fake". Die Geschichte einer virtuellen Liebe. Nicht als schöne Erinnerung. Sondern zur Warnung.

Alles beginnt mit einem harmlosen Eltern-Kind-Tweet, auf den sie eine Antwort von einem Mann erhält. Sein Name sei Kai, er lebe in Münster und arbeite dort als Physiotherapeut mit autistischen Kindern, schreibt er. Zwischen dem sympathischen Unbekannten und der frisch getrennten Mutter entwickelt sich eine angeregte Konversation, die rasch in die Tiefe geht. Bald tauschen sie stündlich Botschaften, er erzählt ihr seine Lebensgeschichte in allen Details. Es ist das erste Mal, dass Victoria sich auf eine virtuelle Beziehung einlässt. Nach ein paar Wochen sagt er ihr, dass er in sie verliebt sei. Ihr geht es ebenso.

"Jeder wusste, was der andere gerade tat", erzählt Victoria. Nur gesehen hatten sie sich bisher noch nicht. Kai - wie er sich nannte - hatte angeblich gerade eine viermonatige Reise zu seinen Eltern in die USA und nach Jamaika angetreten. Dennoch ist er präsent, schickt hunderte von Fotos, mailt, schreibt Postkarten. Als er wieder zurück ist, verabreden sie sich. Zweimal sagt er kurzfristig ab. Sie will ihn besuchen, doch er schiebt Arbeit vor, müsse ständig Patienten annehmen wegen der Schulden, die er im Urlaub angehäuft habe.

Perfektes Beuteschema

"Bis ich gemerkt hatte, was da lief, vergingen Monate." Einfühlsam, tiefsinnig und interessiert sei er gewesen, erinnert sich die 45-Jährige an den virtuellen Freund. "Allmählich hat er mein Vertrauen gewonnen." Victoria war emotional geschwächt, hatte eine Trennung hinter sich - und entsprach damit genau seinem Beuteschema: intelligent, allein erziehend, emotional bedürftig. "Wenn man psychologisch gewitzt ist und Menschen mit den entsprechenden Methoden zum richtigen Zeitpunkt anspricht, kann man Macht auf sie ausüben", davon ist Victoria überzeugt. Ein Phänomen, das übrigens nicht nur Frauen betrifft.

Natürlich hinterfragt sie, zweifelt und fordert Beweise. Doch da sind diese berührenden, wunderbare Liebesbriefe. Die unzähligen Fotos, die ihn beim Wandern, Schwimmen, Einkaufen zeigen. Die üblichen durchschaubaren Verhaltensweisen kann sie bei ihm nicht erkennen: "Er hat zum Beispiel nie nach expliziten Fotos gefragt", sagt Victoria. Er wollte auch kein Geld - aus gutem Grund, vermutet Victoria: "Er ist dafür zu klug, diese Tricks hätte ich sofort durchschaut."

Kai überschüttet sie mit Aufmerksamkeit und Geschenken, schickt auch den Kindern Pakete. Würde jemand, der es nicht ernst mit ihr meint oder sie ausnehmen will, so viel Zeit, Aufmerksamkeit und Geld für Geschenke investieren? "Nein, das wäre absurd", schreibt sie in ihrem Blog.

Andererseits ist es nicht so, dass er nichts verlangt. Er vereinnahmt sie durch die permanente Kommunikation per Skype, Facebook und Instagram. Dass beim Skypen kein Videobild mitläuft, erklärt er immer wieder mit neuen plausibel erscheinenden Ausreden, unter anderem damit, dass seine Webcam kaputt sei. Eines Tages bittet er sie, sie solle nicht so viel twittern und in der Öffentlichkeit von sich preisgeben. Also hört sie auf damit. Auch ihre Freunde vernachlässigt sie zunehmend. Sie hat ohnehin keine Zeit mehr für sie. Und so richtig verstanden fühlt sie sich eigentlich nur noch von ihm.

Dennoch kommen Zweifel. Irgendwann beginnt sie, ihn herauszufordern. Verlangt von ihm, ein Foto von sich zu schicken, auf dem er einen verabredeten Gegenstand in der Hand hält oder einen Zettel mit ihrem und seinem Namen. Sie bekommt die Fotos - allerdings nicht sofort, sondern einige Zeit später. Fotomontagen, wie sie später herausfindet. So perfekt, dass selbst ihr geschultes Auge die Manipulation kaum erkennen kann.

Um seiner Identität die nötige Glaubwürdigkeit zu verleihen, hat der Mann, der sich als Kai ausgibt, einen Facebook-Account für die gemeinsame Kommunikation erstellt, auf dem sich Freunde und weitere Geschwister tummeln - allesamt Attrappen, die seine vermeintliche Existenz bezeugen sollen. Unter ihnen ein Freund namens Chris, mit einer perfekt angepassten Vita, der zufällig dasselbe Gymnasium besucht hat wie sie. Da weiß Victoria noch nicht, dass Informationen und Anekdoten über die vermeintlich gemeinsame Schulzeit auf dem Online-Portal "Stayfriends" zusammengesucht wurden. Der Mann, dessen Profil er aus dem entsprechenden Jahrgang dazu missbraucht hat, fällt später aus allen Wolken, als Victoria ihn aufklärt.

Chris und Kai sind dieselbe Person

Heute weiß sie, dass hinter Chris und Kai ein und dieselbe Person steckt. Eine Person, die Leute ausgespäht und Doppelprofile erstellt hat - allein 17 Facebook- und fünf Twitter-Profile hat Victoria inzwischen herausgefunden. Auch dass er auf Twitter ausschließlich Kontakt zu Frauen hatte: parallel zu Victoria weitere neun. Bei zwei Freundinnen und drei weiteren Frauen ist sie sicher, dass der ominöse Chris ebenfalls Kontakt aufgenommen hat mit der Absicht, dieselbe Nummer abzuziehen.

Die Wahrheit erfährt Victoria durch eine Freundin. Die hatte das getan, was für sie zu dem Zeitpunkt noch undenkbar erschien: Beim Einwohnermeldeamt angerufen, bei seiner Arbeitsstelle recherchiert und an der Schule nachgefragt. "Das wäre ein Riesenschritt für mich gewesen", sagt Victoria. Ein Schritt, der ihr das Gefühl, geliebt und verehrt zu werden, von einem Moment auf den anderen genommen hätte. Die Wahrheit war, dass ein Kai dort nirgends bekannt war, dass er in Münster nicht existierte. Kai war ein Nichts. Nichts als ein Fake. Als sie ihn zur Rede stellt, gibt er sich betroffen und erklärt, dass er nur wegen seines Freundes Chris auf Twitter sei, dass er wegen seines Jobs anonym bleiben wolle und sich deshalb unter einem fremden Profilfoto angemeldet habe. Und dass sein echter Name Daniel sei.

Dass der Mann hinter Chris und Kai, der sich jetzt als Daniel ausgibt, ebenso wenig existiert, wird ihr ziemlich schnell bewusst. Zunächst spielt sie mit, sie will herausfinden, wer dahinter steckt. Und vor allem, warum er das tut. "Warum machte sich jemand so viel Mühe, betreibt diesen ganzen Aufwand, investiert so viel Zeit und Geld? Wofür? Was war das Ziel hinter der ganzen Aktion?", fragt sie in ihrem Blog. Inzwischen kennt sie die Antwort. Es ging nie um Geld oder Liebe. Es ging immer nur um Macht. Victoria sollte sein Geschöpf sein, nur ihm gehören. Und je mehr sie sich von ihren Freunden, ihrer Familie entfernte, desto stärker wurde seine Macht über sie.

Bis heute kennt sie seinen richtigen Namen nicht, weiß nicht, wo er lebt und wie viele Identitäten er derzeit nutzt. Und es interessiert sie auch nicht mehr. Was jetzt zählt, sind ihre Familie und ihre Freunde. "Mir ist klar, dass ich im Moment nicht rankomme an diesen Menschen, deshalb verschwende ich meine Energie nicht, rauszukriegen, wer er ist." Stattdessen beschäftigt sie sich damit, all den Frauen zu antworten und zu helfen, die ihr geschrieben haben und ihre Geschichte erzählen. Die meisten sprechen zum ersten Mal über ihre Erlebnisse. Sie können es sonst niemandem erzählen, weil ihre Freunde und Verwandten sie auslachen würden. "Niemand würde verstehen, wie mir sowas passsieren konnte", schreibt eine Betroffene.

Außerhalb des Internets wäre ein Betrug in diesem Umfang wohl kaum möglich, da ist sich Victoria sicher. Andererseits könne das Internet dabei helfen, solchen Betrügern auf die Schliche zu kommen. "Ein Mensch, der sich derart rege im Netz bewegt, vor allem wenn er einen Beruf mit Patienten- oder Kundenkontakt hat, müsste über Google zu finden sein", sagt Victoria. Um sicher zu gehen, empfiehlt sie die Nutzung von Bildersuchmaschinen, mit denen man Bilder hochladen und die Person identifizieren kann. Vor allem sollte man den Mut haben, mit seinen Freunden und der Familie darüber zu reden. Am wichtigsten aber sei, die Beziehung möglichst schnell ins "real life" zu ziehen, also sich persönlich zu treffen.

Was sie wohl tun würde, wenn sie ihm doch einmal gegenüber stehen würde, im echten Leben? "Ich würde ihn fragen, ob ihm eigentlich klar ist, welchen seelischen Schaden er bei Menschen anrichtet", sagt sie. Zum Beispiel bei Menschen, die nicht das Glück haben, aufgefangen zu werden.

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