Süddeutsche Zeitung

Liebe und Tod:"Die letzten Wochen waren die beste Zeit"

Sven Tretner starb mit 38 Jahren an Morbus Cushing (auch Morbus Itsenko-Cushing). Bei dieser nicht immer tödlich verlaufenden Krankheit verleitet ein Hirntumor die Nebennieren dazu, zu viel des Stresshormons Cortisol zu produzieren. Alle OPs und Bestrahlungen geboten nur Aufschub. Seine Frau Andrea hat ihn in den Tod begleitet und erzählt hier die Geschichte von Sven.

Er legte den Arm um mich. Na ja, er versuchte es, weil er für das Aufsetzen keine Kraft mehr hatte. 'Ich will nicht ohne dich leben, ich kann nicht ohne dich leben, ich wollte mit dir alt werden, ich will nicht ohne dich sein, Sven ...' 'Andrea, selbst wenn ich hier bleiben könnte, wo sollten wir beide denn noch hingehen? Wir zwei sind doch angekommen.'

Diese Sätze tragen mich durch die vergangenen Jahre. Wir waren mehr als 20 Jahre ein Paar. Mehr als die Hälfte unseres Lebens.

Ich erzähle hier die Geschichte von Sven Tretner, der 2007 mit 38 Jahren gestorben ist. Es ist die Geschichte eines Mannes, der mehr als zehn Jahre an einer Krankheit litt und sie mit Bravour meisterte. Er ließ sich nicht brechen von seinem nicht mehr funktionierenden Körper, denn seine Seele wurde immer gesünder.

Es ist paradox, aber je kranker sein Körper wurde, umso lebendiger, wahrer, echter wurde Sven. Er wurde er selbst. Er befreite sich vom Urteil anderer, lernte mit seinen Urängsten umzugehen, tauchte hinab in die eigenen Abgründe, um immer freier zu werden bis zur letzten großen Freiheit - seinem Tod. An diesem Tag vollendete er seinen eigenen Kreis.

Man sagt, das schönste ist, wenn man seinen Lebenskreis zu Ende ziehen kann - zurückblicken kann auf ein gelebtes, lebendiges und zufriedenes Leben - ohne Bedauern. Das hat er geschafft, auf seinem eigenen Weg, ganz allein.

Seine Diagnose: Morbus Cushing, eine heimtückische Krankheit. Und das sollte erst der Anfang seiner langen Krankengeschichte sein. Am Ende litt er an vielen Krankheiten gleichzeitig.

Lernen wir Menschen durch Krankheit, im Jetzt zu leben? Wenn ich an Sven und die Zeit mit ihm denke, lautet die Antwort: Ja. Der Schnitt ist hart. Von null auf hundert in ein neues Leben. Die Zukunft ist geschrumpft, sie ist das Jetzt. Im Jetzt ist alles gut wie es ist, im Jetzt haben wir gelernt, anzunehmen was ist. Kein Bedauern, kein Flüchten, keine Bewertung - ich bin nur im Jetzt. Sehr schwer.

Die Ärzte rieten Sven wieder einmal zu einer Behandlung. Dieses Mal zu einer Bestrahlung, die wie ein chirurgisches Messer wirken sollte. Man hoffte, so den Tumor zu beseitigen, der sich allerdings schon durch zwei OPs nicht beeindrucken ließ. Sven bekam eine Art Helm auf den Kopf gesetzt, um sich während der Bestrahlung ruhig halten zu können. Die Schrauben wurden in seinen Schädel gedreht. Er ging erhobenen Hauptes in die Schlacht um die Angst. Ein tapferer Krieger. Ich versuchte genauso tapfer zu sein. Es knackte. Die Befestigungsschrauben wurden in Svens Kopf eingedreht. Mir wurde schlagartig schlecht und ich musste den Raum verlassen. Ich ließ ihn alleine, aber er lächelte mir nur zu, verstand ohne Worte.

Da diese Form der Radiochirurgie derart präzise bestrahlt, hofften alle Beteiligten, dass nun endgültig alle Tumorreste inklusive des neu gewachsenen Teils langsam vertrocknen würden.

Der Neurochirurg, der Sven die vergangenen Male operierte, schrieb mir nach Svens Tod einen sehr berührenden Brief. Wir beide hätten ihm durch unseren Glauben und unsere Hoffnung die Kraft gegeben, diese OPs noch durchzuführen. Im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung gab es noch nicht einmal mehr einen Grashalm, an den wir uns hätten klammern können. Er hatte noch nie einen Mann derart kämpfen sehen. Er sagte aber auch, dass Sven nur so kämpfen konnte, weil ich ebenso für ihn gekämpft habe.

Zwei Jahre vor seinem Tod waren wir beide ziemlich angespannt, seine Schmerzen waren für ihn und für mich unerträglich. Doch dieser Mann dachte in den für ihn schlimmsten Situationen zuerst an mich: 'Andrea, ich will nicht, dass du so unter meiner Krankheit leiden musst. Es wird dir zu viel, stimmt's?' Ich konnte nichts sagen. Er wollte ausziehen, sich ein Apartment nehmen, ich sollte im Haus bleiben. Nur mittels des von ihm angebotenen Freiraums konnte ich wieder mit ihm Hand in Hand gehen - für unser Leben.

Erneute Operation

Freiraum innerhalb einer Beziehung zu bieten, ist oft nicht leicht, weil die eigenen Ängste einen oft näher aufrücken lassen, als der andere es ertragen kann. Aber allein die Bereitschaft, dem Gegenüber Raum geben zu wollen, schafft eine neue Verbundenheit.

Das Röntgenbild nach der x-ten OP machte keinen wirklich guten Eindruck. Offensichtlich hatte der Arzt den Tumor nicht vollständig entfernen können. Für eine Bestrahlung war der Rest-Tumor zu groß, so dass erneut operiert werden musste.

Wieder lief alles glatt, obwohl Svens Allgemeinzustand wegen der fortgeschrittenen Erkrankung sehr schlecht war. Einen Tag später durfte er schon auf die Halbintensivstation. Dabei sah er furchtbar aus, die Wunde reichte von einem Ohr zum anderen, die Haut der Schädeldecke wurde aufgeklappt, um mittig in der Stirn ein Loch bohren zu können, das herausgesägte Knochenteil wurde nach dem Eingriff mit Klammern wieder befestigt.

Umso größer war seine Freude, nach dieser schweren Kopfoperation ein paar Tage zu Hause sein zu dürfen. Es war Frühsommer, die große Magnolie blühte und wir spazierten durch den Garten, überlegten, wie wir ihn bepflanzen könnten. In groben Zügen hatte ich bereits den Gemüsegarten angelegt und auch schon einige Sorten gesät und gepflanzt. Später lag er ganz entspannt auf einer Liege, dick eingepackt in Decken, und schaute mir bei der Gartenarbeit zu. So hatte ich mir das vorgestellt: Ruhe und Natur in unserem neuen Haus auf dem Land.

Viel Zeit konnte Sven in seinem neuen Haus nicht verbringen, denn bald schon war klar: Der Tumor war nicht vollständig entfernt worden. In seinem Gehirn existierten anscheinend noch Tumorreste, die permanent Befehle an die Nebennieren gaben, zu viel des Stresshormons Cortisol zu produzieren.

Anfang Oktober rieten die Ärzte deshalb dringend zur Entfernung der Nebennieren. Eine gefährliche OP, da ein weiterer, schnell wachsender Tumor entstehen könnte. Auch jetzt konnten wir all unsere Ängste und Sorgen dem anderen gegenüber aussprechen. Was gibt es Schlimmeres, als diese Dinge nicht auszusprechen? Es nicht zu thematisieren schürt nur Misstrauen und Zweifel am Selbst, Zweifel am anderen. Seine Ängste unausgesprochen zurückzuhalten, lässt das Gegenüber mit Vermutungen zurück.

Ende 2006 überschlugen sich die Ereignisse: Sven musste sofort in die Klinik, die Schmerzen waren unerträglich, der Tumor war weiter gewachsen, die Ärzte ratlos. Medikamente wirkten nur kurzzeitig. Sven weinte, schrie, lag apathisch im Bett. In seiner Verzweiflung flehte er den Neurochirurgen an, ihn nicht im Stich zu lassen - er bat um eine erneute OP, die die Ärzte aufgrund des Risikos bislang abgelehnt hatten. Ich sehe ihn vor mir, auf dem Bett sitzend. Er weinte während des Telefongesprächs mit dem Neurochirurgen. Er hatte keine Scham mehr, er hatte nichts mehr zu verlieren. Er bettelte um eine OP, die ihn sein Leben kosten könnte.

Der Arzt willigte ein, es sollte in den folgenden Tagen ein Operationstermin vereinbart werden. Der Schädel müsste von drei Seiten geöffnet werden. Ein großes Risiko in seinem Zustand. Doch die Ärzte bekamen seine Schmerzen nicht in Griff. Svens Sterben begann.

Wie zwei kleine Kinder, die sich fürchten, nahmen wir uns an die Hand

Wie zwei kleine Kinder, die sich fürchten und nur zusammen stark sind, nahmen wir uns an die Hand und gingen einfach weiter, ohne uns umzudrehen. Der Morgen nach der ersten OP fing herrlich an. Schon um acht Uhr klingelte das Telefon: "Hallo Schatz, ich bin es. Mir geht es besser. Die Schmerzen sind fast weg. Ich freue mich auf dich. Bis gleich. Ich liebe dich."

Eine Stunde später klingelte das Telefon noch einmal. Ein Arzt aus der Intensivstation bat mich, sofort zu kommen. Sven wurde zehn Minuten nach unserem Gespräch bewusstlos - die schon am Tag zuvor befürchtete Gehirnblutung trat ein. Die Ärzte entschieden, ihn sofort ins künstliche Koma zu legen.

Ein Schlauch hing aus seinem Schädel. Sein Kopf sah aus wie ein Schlachtfeld. Verbände, Schläuche, Pflaster, kahl rasierte Stellen wechselten sich mit behaarten Flächen ab. Der Schlauch war nötig, weil so der Überdruck, der durch die Einblutung entstanden war, abgeleitet werden konnte. Das Blut tropfte in ein Behältnis und man erklärte mir, wenn sich nur noch klare Flüssigkeit dort ansammelt, dann wäre die größte Gefahr vorbei.

Ich musste mich dem Leben ergeben

Und wieder einmal musste ich mich dem Leben ergeben - Demut zeigen. Eine komische Mischung aus erzwungener, teilweise guttuender Ruhe, Machtlosigkeit und gefühlter Ohnmacht. Für einen Moment war es still und im nächsten alles wieder laut. Extreme leben - da hatten Sven und ich ein gutes Training.

Ich hielt seine Hand. Schweigend saß ich da und wartete wie ein kleines Kind, dass jetzt gleich das Wunder passiert, auf welches ich so lange gewartet hatte. Ich spürte, wie sich seine Hand bewegte - ich war wie gelähmt, ich konnte nicht sprechen. Er dachte sich wahrscheinlich, wenn sie nicht spricht, spreche ich: 'Meine große Liebe, ich liebe dich.'

Dieser Mann. Sven stellte keine Fragen, es war scheinbar völlig egal, was passiert war. Hauptsache, ich war da - wir waren wieder zusammen - alles andere war für den Moment egal.

Kurz vor dem Jahreswechsel 2006 saß Sven zum ersten Mal wieder - für ein paar Sekunden. Er sah sich im Spiegel und es kam es mir vor, als würde er sein Leben noch einmal in Kurzform an sich vorüberziehen lassen. Dieser starke Mann erkannte sich nicht mehr wieder. Er war alleine nicht lebensfähig. Was macht das mit einem Menschen?

Einmal kam er nach Hause und sagte zu mir: 'Heute war ich wieder so weit Andrea, heute habe ich mir für einen kurzen Moment überlegt, auf der Autobahn mit 200 an die nächste Brücke zu fahren. Aber ich kann es nicht, ich kann nicht ohne meine kleine Familie.' Es war ein Schock für mich damals, dass er daran gedacht hatte, sich umzubringen. Ich ließ ihn einen Überlebensvertrag unterschreiben, in dem er mir schriftlich versprach, dass er sich nicht umbringen wird.

Selbst wenn er wollte, nach diesen Eingriffen konnte er sich gar nicht mehr umbringen. Dem Leben so ausgeliefert zu sein, ihm noch nicht mal selbst ein Ende setzen können. Selbst wenn man es am Ende doch nicht tut, aber die Möglichkeit zu haben, schafft doch Luft in der Enge der Aussichtslosigkeit.

Ich holte ihn nach vier Monaten Reha und Krankenhaus wieder nach Hause. Er schrieb an meinen Geburtstag in seinen Kalender: Geschenk an Andrea. Ich komme zurück ins Leben!

All der Kampf der letzten Wochen, hatte er sich nicht für diese Aussage gelohnt? Die ganze Schinderei hatte ihm dieses Glücksgefühl beschert, dass er sich in der Lage fühlte, wieder ins Leben zurückzukommen. Er spürte die Freiheit wieder. Das enge Korsett der Umstände lockerte sich und er durfte atmen, frei atmen - nur für wie lange?

24. Juli 2007 im Besprechungszimmer der Bestrahlungspraxis: Es war kein Narbengewebe auf den Bildern, es war Tumorgewebe, nichts als Tumor, der ganze Kopf war voll davon. Keine Chance mehr. Rein zur eventuellen Schmerzreduzierung wurde noch einmal eine Bestrahlung angesetzt, die einzige Hilfe, die ihm noch angeboten werden konnte. Wir nahmen an.

Die letzten Wochen waren die beste Zeit in unserem Leben. Pure Angst. Pure Lebendigkeit. Pure Nähe. Nichts war dazwischen. Kein Schutz, der einen vor Verletzungen bewahrt hätte. Unser direkter Zugang zueinander, zu unserer gemeinsamen Quelle, bot uns den Luxus, uns nackt und ungeschützt zu zeigen, vor uns und den anderen. Das war die größte und schönste Erfahrung meines bisherigen Lebens.

Einmal stand er auf und ging ans Fenster, ich hielt ihn, ich machte die Tür auf, er ging auf den Balkon - er hatte nur seine Windeln an, aber es war ihm egal, was andere von ihm dachten - er wollte ein wenig in die Ferne schauen. Danach war er zufrieden und legte sich wieder ins Bett.

Ein anderes Mal ging es nicht so gut aus. Ich war gerade aus dem Zimmer, als er aufstand und in Richtung Treppe torkelte und mit voller Wucht auf seinen Kopf fiel. Mit Mühe und Not schleppte ich ihn ins Bett. Er wog vielleicht noch maximal 50 Kilo, aber selbst dieses geringe Gewicht war ohne seine Hilfe kaum zu bewegen. Ich rief die Hospizschwester an und fragte, was ich tun soll, ob ich den Krankenwagen rufen soll. Sie sagte nein, das wäre nicht nötig, wenn eine Blutung bei diesem Sturz entstanden wäre, würde er einbluten und ruhig einschlafen.

Er würde nichts davon merken. Nichts merken heißt: sterben. Und das würde vielleicht in den nächsten Stunden passieren? Ich bewegte mich keinen Millimeter von seinem Bett. Die Situation war Horror für mich. Stunden am Bett zu sitzen, ohne zu wissen, was denn nun passiert. Stirbt er oder nicht?

Eine schöne Stille namens Frieden

Zwei Wochen später, 17. September 2007. Kurz vor 17 Uhr entstand eine Träne in seinem Auge. Ich weiß nicht, wie oft ich meine Hospizschwester mit der Frage nervte, wie ich denn erkennen könne, ob er stirbt. Verändern sich da die Fingernägel, ist es ein bestimmter Geruch, an was kann ich mich halten? Sie sagte nur, das einzig Verlässliche ist die Träne, die kommt, kurz bevor die Menschen gehen.

Jetzt war sie da. Ich war ruhig und aufgeregt zugleich. Es war wunderschönes Wetter an diesem Tag. Ich kippte das Fenster und sagte zu Sven: 'Flieg, es ist wunderbare Thermik heute. Flieg.' Er fing an schwer auszuatmen und plötzlich war es still. Ganz still. Eine schöne Stille namens Frieden.

Wir hatten es geschafft. Die Anstrengung fiel ab. Ich zündete eine Kerze an, küsste ihn und verließ das Zimmer. Er sollte ein wenig alleine sein können und ohne sich nach mir umdrehen zu müssen, gehen können. Danach kamen alle Freunde. Wir hielten Totenwache, wir aßen zusammen und zwei von ihnen wuschen und zogen ihn zusammen mit mir an. Er blieb noch drei Tage im Haus.

Ich darf satt durch mein Leben gehen, ich muss nicht ausgehungert nach Liebe ausschauen. Ich habe Appetit auf Nachspeise - den Hauptgang hatte ich schon. Das ist der eigentliche Luxus im Leben: satt zu sein mit Liebe.

'Andrea, jetzt weiß ich endlich, um was es im Leben geht: um die Liebe und um sonst nichts anderes.' Das waren Svens Worte, eine Woche bevor er starb. Er hielt mich dabei in den Armen. Im Geben werden wir groß - im bedingungslosen Geben.

Wir beide haben uns gegeben, was wir konnten, alles für den anderen. Wir haben uns satt machen dürfen. Welch ein herrliches Geschenk vom Leben. Eine große Verneigung an das Leben. Besten Dank.

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Andrea Tretner, geb. 1970, arbeitet heute in der Nähe von München als Heilpraktikerin für Psychotherapie und hat ein beindruckendes Buch veröffentlicht: "Wer nicht fragt, stirbt dumm. Überraschende Fragen und Antworten zu Sterben und Tod." Irisiana Verlag.

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