Liebe:"Generation Tinder" - totale Selbstinszenierung statt großer Liebe

Liebe: Wie steht es um die Liebe der Thirtysomethings?

Wie steht es um die Liebe der Thirtysomethings?

(Foto: Karen Rosetzsky/Halal Verlag)

Autoren wie Michael Nast diagnostizieren jungen Menschen Beziehungsunfähigkeit. Aber steht es wirklich so schlecht um die Liebe?

Von Laura Hertreiter

Zack, ein Sprung, zerknautschte Sneakers landen auf der Tischplatte. Direkt neben dem Mikrofon, in das Michael Nast zwei Stunden lang Geschichten über schlechte Dates, schlechte Gespräche, schlechten Sex hineingelesen hat. Jetzt, am Ende, steht er oben auf dem Tisch im Scheinwerferlicht und breitet die Arme aus. Unten wird der Jubel laut. Hunderte Frauen und einige Männer mit knöchelfreien Hosen haben ihre Weinschorlen beiseitegestellt, applaudieren und pfeifen. Nast dreht sich um, tiefe Hocke. Dann knipst er ein Selfie-Lächeln an für die Kamera. Die Beziehungsunfähigkeit feiert sich selbst.

Seit Monaten ist der Autor und Blogger mit "Generation Beziehungsunfähig" auf Lesereise, einem Buch, das ihn für Hallen voller Menschen zum Superstar gemacht hat. Ein 239-seitiger Befund zu seinem eigenen Liebesleben, oder vielmehr dem seiner Berliner Kumpels, über das er das Generations-Label gepinselt hat.

Die Thirtysomethings, schreibt Nast, selbst 40 Jahre alt, scheitern vor lauter Selbstinszenierung, Selbstoptimierung und Selbstverwirklichung an der Liebe. Statt Haus, Kind und Hund wie die Eltern haben sie Fitnessstudio-Verträge, Tinder-Dates, lässige Jobs und super Selfies. "Wir sind eine Generation von Selbstdarstellern. Jeder ist seine eigene Marke. Totale Selbstinszenierung." Sein Buch, ein bisschen Kumpelgesprächsprotokoll, ein bisschen Analyse, ein bisschen Sozialkritik und viel Plattitüde, hat sich seit seiner Veröffentlichung Mitte Februar mehr als 100 000 Mal verkauft. Sieben Wochen Platz eins, bis heute klebt es weit vorn auf der Bestsellerliste.

Gerötete Wangen, heftiges Nicken, totale Identifikation

Die Tour mit 70 Lesungen ist nahezu komplett ausverkauft, in Sälen mit bis zu 1800 Plätzen drängen sich Zahnspangen-Girls neben Dauerwellenfrauen. "Wir haben die Prinzipien, nach denen unser Wirtschaftssystem funktioniert, so sehr verinnerlicht, dass wir das auf unser Zwischenmenschliches anwenden. Wir wollen Perfektion, dabei ist Perfektion immer Illusion", berlinert Nast auf der Bühne. Unten im Publikum: gerötete Wangen, heftiges Nicken, totale Identifikation.

Aber was bedeutet es, dass Tausende den Befund der Beziehungsunfähigkeit beklatschen, liken, teilen, bejubeln? Auf den ersten Blick: nichts Gutes. Um die Liebe ist es offenbar katastrophal bestellt.

Wer bei Psychologen, Paartherapeuten und Scheidungsanwälten nachfragt, kriegt ein sehr entschiedenes Nein zur einfachen These der Beziehungsunfähigkeit. "Menschen hatten schon immer Probleme mit ihren Beziehungen", sagt etwa die Trierer Psychologin und Autorin Stefanie Stahl. Die Forschung gehe davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Menschen unverbindlich oder wenig konstant in Liebesdingen sind, also "einen unsicheren Bindungsstil haben". Dieser Anteil sei über Generationen hinweg konstant.

Die nackten Zahlen sind romantischer als Nasts Diagnose

Generell lesen sich nackte Zahlen wesentlich romantischer als Michael Nasts Zeitgeist-Diagnose. Laut Statistischem Bundesamt sinkt die Scheidungsrate in Deutschland seit 2004, Ehen halten zwei Jahre länger als noch vor zwei Jahrzehnten. Für die zahlreichen Hochzeiten wird immer mehr Geld hingeblättert, die immer pompöseren Heiratsanträge, Junggesellenabschiede, Hochzeitsreisen und Babypartys nicht mitgerechnet. Und das im Land der angeblich Beziehungsbehinderten.

Ein ähnlicher Befund hat in den vergangenen Tagen allerdings auch in den sozialen Netzwerke Diskussionen ausgelöst. Der amerikanische Blogger Dale Partridge, 31, postete ein Foto von sich, seiner Frau und den beiden Kindern auf Facebook. Und wertete gleichzeitig alle ab, die dieses Bild nicht abgeben können: "Ich weiß nicht, wann Männer beschlossen haben, dass 30 das neue 15 ist", schrieb er dazu. Männer heute spielten lieber Videospiele, als sich zu verabreden, und schreckten wie kleine Jungs vor Bindung und Verantwortung zurück. "Wir brauchen mehr Männer." Hunderttausende teilten die Botschaft von der Überforderung mit der Liebe weiter.

Autor Michael Nast

Autor Michael Nast.

(Foto: picture alliance / dpa)

Genau davor fürchtet man sich seit mehr als einem Jahrzehnt. Als die ersten Singlebörsen online gingen, wurde die Sorge laut, durch den Marktplatzcharakter könnte das Konzept der romantischen Beziehung kaputtgeklickt werden. Als vor vier Jahren Tinder, inzwischen App gewordenes Symbol zwischenmenschlicher Verkorkstheit, auf den Smartphones der Städter landete, wurden die Warnungen vor emotionaler Degeneration schrill.

Früher, war plötzlich überall zu lesen, hätten sich die Menschen in Bars tief in die Augen geblickt und damit den Grundstein für lebenslange, solide Beziehungen gelegt. Und heute? "Suchen wir potenzielle Partner per App aus, als wären es Schuhe bei Zalando", kritisiert Autor Nast. Als hätte das Wisch-und-Weg-Handyprogramm die Barblicke komplett hinfortgewischt.

Woher kommt die Lust an der Selbstkrankschreibung?

Logisch lässt es sich nach dem Prinzip Wischen, Treffen, Ficken nutzen. Aber mit jedem Jahr, in dem es Menschen zueinander bringt, steigt auch die Zahl der Paare, die sich auf diese Weise kennengelernt haben. Auch der Hochzeitspaare. Letztendlich sind die neuen Möglichkeiten eben genau das: neue, zusätzliche Möglichkeiten.

Doch die werden permanent bejammert. Eine junge Journalistin klagte kürzlich in der Onlineausgabe der FAZ in einem Text mit dem Titel "Warum meine Generation zu blöd für die Liebe ist": "Wir sind wie Kinder in einem Spielzimmer, das so überfüllt ist, dass wir eine neue Modelleisenbahn brauchen, weil wir die alte nicht mehr finden. Ich wäre gern wie ein Kind, das seinen Teddy auch dann noch liebt, wenn sein Fell an Glanz verliert."

Auch das Phänomen Nast zeigt, wie bedroht und bedrängt sich viele von den neuen Möglichkeiten fühlen. "Generation Beziehungsunfähig" erschien vor einem Jahr zunächst als kleiner Blogeintrag und wurde allein durch die schiere Masse an begeisterten Netzlesern zur Single-Bibel: Binnen Stunden waren die Server des Blogs zusammengebrochen, eine Million Aufrufe allein in der ersten Woche, Verleger standen Schlange. Seither ist kaum noch jemand Single, getrennt, geschieden, ledig, auf der Suche, ungebunden, Junggeselle. Sondern: #beziehungsunfähig, yeah. Woher aber kommt die Lust an der Selbstkrankschreibung, an der Pseudodiagnose?

Zunächst ist das Ganze vor allem komfortabel. Erstens sind Beziehungsunfähige vielleicht manchmal einsam. Aber alles andere als allein, wie die vollgestopften Hallen beweisen, in denen Nast liest. Zweitens ist "Sorry, beziehungsunfähig" bequemer als "Ich steh' einfach nicht auf dich": Der Einzelne ist nicht verantwortlich, Beziehungsunfähigkeit ist ein Fehler im System; schuld sind die Datingportale, das Internet, der Kapitalismus. Oder die Politik.

Reisen, Partys und Bekanntschaften - was ist daran schlecht?

Nächster Stopp auf Michael Nasts Tour, gerade hat der Autor in München eingecheckt, Zigarette vor der Hotellobby. "Wir leben in einem Land, das nicht arm ist. Aber du bist sozial gebrandmarkt, wenn du mit Mitte 20 ein Kind kriegst." Er wippt von einem Sneaker auf den anderen. "Stattdessen sollen wir so früh wie möglich erfolgreich und effizient im Job sein. Das entfremdet uns von unserer Natur. Das ist totales Politikversagen."

Genau das verbindet Michael Nast, von der Presse zum "Single-Papst" ernannt, mit Kollege Dale Partridge, dem amerikanischen Familienvater: die Sehnsucht nach dem alten Modell - Heirat, Kinder, Haus.

Im Vergleich zu den eigenen Eltern im selben Alter sieht sich Nast als Verlierer. "So gesehen bin ich, verglichen mit ihrem Leben, gnadenlos gescheitert. Und damit bin ich nicht allein", schreibt er.

Trotz aller hallenfüllender Euphorie für diese Beobachtung: dass eine ganze Generation unfähig zur Liebe sein soll, greift auf vielen Ebenen zu kurz. Ist es schlimm, wenn Mittdreißiger anders leben als ihre Eltern? Dass man sich heute später bindet, hängt eng mit längeren Ausbildungswegen zusammen. Aber bedeutet das damit verbundene Mehr an Wohnorten, Reisen, Partys und Bekanntschaften nicht auch ein Mehr an Freiheit, an Erfahrung?

Es gibt schlicht mehr Möglichkeiten. Das zeigt der große Teil der Menschen, die als Y-, Why-, Millennial- oder Tinder-Generation mitgelabelt werden, obwohl sie längst verheiratet sind. Manche sogar mit Haus, Hund, Kind. Angekommen in der Nastschen Traumvorstellung.

Die will der Autor selbst nicht aufgeben. "Ich hätte schon gern eine Beziehung. Aber meine Eltern sagen völlig zu Recht: Junge, du hast doch gerade gar keine Zeit für so was." Er zieht ein letztes Mal an der Zigarette, dann muss er zur Lesung. Die Beziehungsunfähigkeit feiern.

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