Lena sitzt auf dem Sofa und erzählt von einer Frau im Bunker. Das Sofa steht im Warteraum eines Radiosenders in Köln, Lena ist in zehn Minuten auf Sendung und quatscht mit ihrem Team, der Managerin, der Maskenbildnerin und dem Mann vom Label.
Die Frau im Bunker also. Die Hauptfigur von "Unbreakable Kimmy Schmidt", das ist ihre neue Lieblingsserie. Hat sie gestern Abend auf Netflix angefangen. Lena erzählt: Diese Kimmy Schmidt sitzt 15 Jahre lang in einem Bunker irgendwo in Indiana. Sie ist Teil einer Sekte, die glaubt, draußen sei die Welt untergegangen. Dann wird sie befreit, erzählt Lena, und muss irgendwie klarkommen in der normalen Welt. Lena klatscht sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. "So super!"
Lena hat ein neues Album. Sie hatte dabei komplett freie Hand. Deshalb verbringt sie in diesen Tagen viel Zeit in Warteräumen von Radiosendern. Lena war selbst noch nie in einem Bunker und noch nie in Indiana. Aber die Sache mit dem Mädchen, das plötzlich in der normalen Welt klarkommen muss, die passt schon auch zu ihr. Wie übrigens auch die Sofas. Typische Lena-Momente passieren oft auf Sofas. Ein paar Wochen vorher sitzt sie zum Beispiel auf dem Sofa eines Münchner Hotelzimmers, beide Beine hochgezogen. Pressetermin, alle 20 Minuten kommt ein neuer Journalist ins Zimmer. Sie ist perfekt gekleidet, professionell geschminkt, sie macht seit Kurzem Werbung für L'Oreal. Sie antwortet brav und fummelt sich dabei abwesend an der dunklen Strumpfhose rum. Und - Ratsch! - ist da ein Riesenloch.
Typischer Lena-Moment auch: Am vergangenen Montag, sie sitzt beim ARD-Morgenmagazin in Köln auf der aggressiv ausgeleuchteten Studio-Couch. Es ist kurz vor sieben, die Moderatoren scherzen, ob sie sehr müde sei? Und Lena: zieht live im Fernsehen die Beine hoch und rollt sich zum Embryo, als würde sie schlafen.
Lena und die Sofas. Schon vor fünf Jahren, als alles losging, schrieben ja alle darüber. Das Zeitungsarchiv ist voll von Reportagen, die beschreiben, wie sich die 18-jährige Lena beim Interview auf Sofas wälzt, rollt, herumhüpft oder Saft darauf verpritschelt. Wenn man Lena Meyer-Landrut ein bisschen begleitet, erkennt man: Sie macht das, wenn sie unsicher ist. Der Lena-Reflex ist nämlich: Bei Nervosität Beine anziehen und irgendwie rumhibbeln. Oder, wenn gerade kein Sofa zur Hand ist, die Stimme zur Kindchenstimme machen, und zum Beispiel was über "Robbenbeeeebis" erzählen. Das macht sie am selben Tag, an dem sie von der Frau im Bunker erzählt, noch bei einem Video-Interview.
Fünf Jahre ist es jetzt her, dass sie sich bei Stefan Raabs Castingshow angemeldet hat. Vier Monate später waren drei ihrer Songs gleichzeitig in den Top Five der deutschen Charts. Das hat niemand vor ihr geschafft, weder die Beatles noch Michael Jackson. In den vier Monaten hatte sich Deutschland in eine 18-jährige Abiturientin aus Hannover verliebt. Lena Meyer-Landrut hatte zuvor noch nie auf einer Bühne gesungen, es war absurd und ein bisschen gespenstisch, der Spiegel erfand das Wort "Lenaismus". Kurz darauf gewann sie den Eurovision Song Contest in Oslo und schrieb den Satz "Verdammte Axt, ist das geil!" ins Goldene Buch der Stadt Hannover, während der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff grinsend hinter ihr stand.
Fünf Jahre ist das her, das heißt auch: Lena ist heute immer noch erst 23. Sie macht jetzt alleine weiter. Ohne Stefan Raab, der die ersten beiden Alben schrieb. Ohne Eurovision Song Contest im Rücken und ohne grinsende Ministerpräsidenten im Schlepptau. Wenn man dieses etwas gespreizte Bild mal weiterdenken will, ist Lena jetzt sozusagen aus dem Bunker raus.
Das neue Album ist ihr viertes. "Aber es fühlt sich eigentlich an wie mein zweites", sagt Lena im ARD-Morgenmagazin. Es ist das zweite, bei dem sie bestimmte.
In den letzten Jahren hat sie sich mit mehr als 30 Songwritern getroffen, erzählt sie, ein paar in L.A., ein paar in London. Einer hat mal was mit Kylie Minogue gemacht, das wollen die Radiomoderatoren jetzt immer ganz genau wissen. Dabei lief es immer so ab: Die Songwriter setzten sich ans Klavier und hörten sich an, was diese Lena aus Germany so mitgebracht hatte. Und Lena summte oder sang ihre Ideen vor. Ein Instrument spielt sie ja immer noch nicht.
Das ist so ein Punkt, mit dem sie gehadert hat. Ziemlich genau ein Jahr nach dem ersten Auftritt fing das an. Da änderte sich etwas: Die Liebe der Deutschen war nicht mehr bedingungslos. Das zweite Album verkaufte sich nur halb so gut wie das erste. Lena musste beim ESC in Düsseldorf ihren Titel verteidigen - eine Raab-Idee, die sie schon damals nicht so gut fand - und landete auf Platz zehn, hinter Georgien. Die Zeitungen schrieben von halbleeren Hallen. "Ein Jahr lang lief alles perfekt", erinnerte sich Lena kürzlich in einem Interview, "dann war alles schlecht, was ich gemacht habe."
Plötzlich gilt Lena als Zicke. In Internetkommentaren nennt man sie "undankbare Kuh"
In dieser Zeit ändert sich ihr Image. Lena ist nicht mehr die unbekümmerte Selfmade-Sängerin mit den Pausbäckchen und dem Joe-Cocker-Tanzstil. Sie ist plötzlich die Zicke. Für Arte fährt sie mal eine Nacht lang mit Casper durch Berlin und mosert ziemlich viel vor der Kamera herum. "Ich hatte da einfach einen schlechten Tag", sagt sie. Aber der Auftritt zementiert ihr Zicken-Image. Vorherrschende Meinung in den Kommentarspalten des Internets: Lena, die undankbare Kuh. Drei Jahre danach fragen sie Leute noch immer nach diesem Arte-Auftritt, sagt sie. "So ist das Geschäft: Du machst eine oder zwei dumme Sachen und wirst jahrelang darauf angesprochen. Ich fucke mich da nicht mega drüber ab. Aber seither weiß ich, was das für Auswirkungen hat. Auf der Ebene bin ich nicht mehr so unbeschwert."
Damals ist Lena mitten in ihrer Zweifel-Phase. Von der Abiturientin mit den Prüfungsfächern Biologie, Geschichte, Sport, ist sie zur öffentlichen Person geworden. Zu einem Popstar mit national beladener Bedeutung. Andere arbeiten an so was Jahrzehnte - sie bekommt es praktisch über Nacht.
"Ich wollte immer nur Sachen ausprobieren", sagt sie damals. Singen, Schauspielen, Reisen, Kellnern. "Nur hat das Erste sofort geklappt." Wie stolz kann man auf etwas sein, das man so läppisch-nebenbei erreicht hat, quasi leistungsfrei? Und wie viel Gegenwind hält man dann aus? Das sind so Fragen, die damals in Lena arbeiten.
Heute, noch mal vier Jahre später, sitzt sie im Warteraum des Radiosenders und sagt: "Es hat eine Zeit gebraucht, bis ich mir das eingestanden hab: Du hattest irre viel Glück, aber auch nicht nur Glück. Vielleicht hast du schon auch sowas wie", sie zögert - "Talent."
Das ist eine Seite der Lena Meyer-Landrut, die man damals eher nicht mitbekommt. Vielleicht ist es überhaupt der entscheidende Unterschied zwischen der Bunker-Lena 2010 und der freien Lena 2015: Seit sie auf sich allein gestellt ist, ist sie kritisch mit sich. Extrem kritisch.
Kurz nach acht, beim Morgenmagazin hat Lena ihre neue Single gesungen, aber sie ist unzufrieden. Sie steigt von der Bühne, packt ihre Sachen in den Louis-Vuitton-Rucksack. Am Hinterausgang wartet ein Junge mit Stift und Autogrammzetteln, sie unterschreibt, steigt in den Van und fährt zum nächsten Interviewtermin. Der übliche Ablauf: Händeschütteln, Warteraum, was ist hier das Wlan-Passwort? Sie öffnet auf dem Smartphone die ARD-Mediathek und sucht den Auftritt von gerade eben. Sie fummelt sich einen Stecker ins Ohr und hält den anderen der Managerin hin: "Willst du mithören?" Dann drückt sie auf Play und legt das Handy neben sich. Mit dem Display nach unten.
"Wie ich aussehe, weiß ich ja", sagt sie später. "Aber wenn ein Auftritt nicht gut läuft, muss ich meinen Gesang das nächste Mal besser machen."
Als sie damals, nach dem zweiten Album, ihr Tief hat, sucht sie nach einem Ausweg. Sie ist von daheim ausgezogen, wohnt jetzt in Köln. Aber sie will Struktur, Termine. Sie schreibt sich an der Uni ein, Afrikanistik und Philosophie, wie die Bild-Zeitung sofort vermeldet. Und Lena geht kein einziges Mal hin. Stattdessen beginnt sie die Arbeit am nächsten Album. Und schafft sich einen Hund an.
In Köln-Mülheim sitzen zwei Männer unter einem Sonnenschirm und reden über den Beginn ihrer Leidenschaft. Sie wissen genau, wann das war: 2. Februar 2010. Lenas erster Auftritt bei "Unser Star für Oslo". "Das war plötzlich wie eine Sucht", sagt der eine, er heißt Berthold Kunz. "Man hat die ganze Zeit im Internet geguckt: Was macht die Kleine jetzt?"
Die Mails des inofiziellen Lena- Fanclubs enden mit "lenaistischen Grüßen"
Aus der Leidenschaft wurde der Fanclub von Lena Meyer-Landrut. Kunz, 42, ist Schatzmeister, der andere Mann, er heißt Peter Hartmann und ist 56, ist der erste Vorsitzende. Die Vereinsmitglieder nennen sich "Lenaisten", ihre Mails enden "mit lenaistischen Grüßen". Zur letzten Tour haben sie unter anderem 15 000 Knicklichter besorgt und vom Bühnengraben aus an die Fans verteilt, gerade planen sie das nächste Sommerfest. Dort soll ein Schützling von Lena aus "The Voice Kids" auftreten, wo sie in der Jury sitzt. Lena selbst hatte keine Zeit.
Wenn man den Chefs ihres Fanclubs zuhört, versteht man, warum Deutschland sich 2010 so hemmungslos in Lena verliebt hat. Und warum es in Teilen bis heute noch verliebt ist.
"Deutschland beim ESC - das war ja nur noch peinlich", sagt Peter Hartmann. Dann nahm Raab das in die Hand, schon mal ein gutes Zeichen, sagt Hartmann, und dann trat da plötzlich dieses Mädchen auf. Und was für eins! "Die haben ihr geraten: Sing was, das die Leute kennen!", sagt Hartmann. "Und was singt sie? Einen unbekannten Song von Adele. Ein paar Runden später sagten die ihr: Sing bloß keine Ballade, funktioniert im Fernsehen nicht! Und was singt sie? Eine Ballade!" Er lacht und schüttelt den Kopf. "Die macht Fehler, die haut daneben", sagt Kunz, "aber sie überspielt es genial!" Lena berührt die Deutschen damals an einem Punkt, den sonst kaum jemand im Showgeschäft berührt. Endlich eine Deutsche, die im Rampenlicht einer Castingshow nicht zur Biedersäule erstarrt oder strategische Heulattacken einlegt. Eine mit normalem Tanztalent, normalem Tattoo am Oberarm und normalem Doppelnamen.
Sie hatte schon viele Angebote für Nacktfotos und Filmrollen. Aber sie sagte immer ab
Der Fanclub liebt Lena seither ungebrochen. Obwohl sie sich musikalisch weiterentwickelt hat und längst nicht mehr wie Joe Cocker tanzt. Die Lenaisten haben 250 zahlende Mitglieder, ein paar sogar in Russland, sagt Kunz. Die meisten Deutschen aber wollten weiterhin genau die Lena von 2010. "Typisch Lena" war ja schon vor Oslo ein geflügeltes Wort. Wenn sie mal wieder in einer Pressekonferenz das Wort "geil" verwendete - typisch Lena! Wenn sie "Castingscheiße" sagte, obwohl sie ja selbst einem Casting entsprungen war - typisch Lena! Problematisch war das nur für Lena. Weil Veränderung schwieriger wird, je stärker man für eine Sache geliebt wird.
"Den Satz mit der verdammten Axt hab ich zum Beispiel nie wieder verwendet", sagt sie. Die Festlegung hat sie genervt. Neulich gab es im Zeit-Magazin wieder ein großes Porträt über sie. Alles super, nur stand wieder was von ihrem Freund drin, angeblich ist sie mit einem Basketballprofi zusammen, dabei habe sie das nie gesagt. "Eine Scheißsache in einem Text, zehn gute - damit muss man wahrscheinlich rechnen."
Man merkt es nicht sofort, aber das Hoch und Runter, das fünfjährige Stahlbad der Öffentlichkeit, hat Lena abgeklärt. Sie ist aufgekratzt und hibbelig und turnt auf Sofas herum wie immer - aber wenn man länger mit ihr spricht, ist da immer eine unsichtbare Mauer, an die man im Gespräch stößt. "Nächste Woche fahre ich in Urlaub." - Oh, wohin geht's? - Stummes Kopfschütteln, Mauer. Einmal fragt ein Moderator von 1Live im Scherz: Was ist das Beste daran, einen Basketballer zum Freund zu haben? - Stummes Kopfschütteln.
Die unsichtbare Mauer ist einerseits ein guter Rat von Stefan Raab, sagt sie. Nichts Privates in die Öffentlichkeit! Sie hält sich daran, auch jetzt, wo sie aus dem Bunker draußen ist. Andererseits ist diese Mauer vermutlich auch einer der Gründe, weshalb Lena bis heute fasziniert: "Ich hab mich eben nicht so auf einen Schlag verpulvert", sagt sie. Lena hätte schon viel Geld mit Nacktfotos verdienen können, erzählt sie. Ganz zu schweigen von Schauspielrollen, die bekommt sie ständig angeboten. Das wollte sie ja eigentlich mal machen: Schauspielen, Heike Makatsch war ihr Vorbild. Aber sie sagt immer ab.
Vielleicht hat sie vor allem dieses aus den letzten fünf Jahren gelernt: Nur weil zufällig gleich das Erste klappt, was man ausprobiert, muss man das nicht weitermachen. Aber wenn es sich gut anfühlt, macht man es lieber gleich richtig.