Süddeutsche Zeitung

Sterneküche im Osten:Wo die Stasi spitzelte, speist heute Lagarde

Seit 15 Jahren kocht Peter Maria Schnurr Leipzig an die Spitze der Gourmetküche. Bei ihm trifft man die EZB-Chefin, vielleicht die Kanzlerin - und ganz normale Menschen mit Adiletten.

Von Marten Rolff

Der Weg zu Leipzigs erfolgreichstem Koch ist nicht gerade ein Parcours der Bescheidenheit. Da wäre etwa das Luxushotel, in dessen oberster Etage sein Restaurant, das "Falco", logiert. Als zweithöchstes Gebäude der Stadt ist das "Westin Grand" nirgends zu übersehen, auch weil der DDR-Bau mit Fliesen verkleidet ist, die in der Sonne glitzern wie Swarovski-Steine. Die Lobby lässt Gäste wie Ameisen wirken, und für alle, die bis dahin nicht wissen, was sie im 27. Stock erwartet, hängt eine lebensgroße Fotomontage von Peter Maria Schnurr an der Wand. Der Koch trägt darauf eine rote Trainingshose und stützt sich grinsend auf ein mannshohes Messer, darunter steht: "Simply the best". Ein Restaurantkritiker hat ihm deshalb mal "Personenkult stalinistischen Ausmaßes" vorgeworfen. Schnurr formuliert es anders: "Ich bin, wie ich bin, entweder da haste Bock drauf oder eben nicht."

Peter Maria Schnurr, das sagt er selbst, ist laut, schnell und direkt. Als man aus dem Fahrstuhl tritt, wartet er schon vor der Tür; er trägt eine rote Jogginghose, wie auf dem Foto, sie ist sein Markenzeichen. Der Koch quetscht Hände eher, als dass er sie drückt. Zwischen Schnurrs fröhlich dröhnenden Begrüßungssätzen eine Erwiderung zu platzieren, ist fast unmöglich, ohnehin beginnt er sofort mit der Restaurantführung. Willkommen ganz oben, in Ostdeutschlands luxuriösestem Gourmetloft: 678 Quadratmeter mit cremefarbenen Ledersesseln, Glastischen, Ebenholz-Trennwänden und umlaufenden Fenstern. Dahinter liegt Leipzig dem Gast zu Füßen.

Die Anordnung ist wichtig. Weil ein solcher Raum, 100 Meter über der Stadt, einen ja leicht auf die Idee bringt, abzuheben. Und weil jedes Detail hier die Frage aufwirft: Wie geht das bloß zusammen - diese Stadt, dieser Ort und dieser Koch?

Schließlich werden die bürgerbewegten Leipziger vor 15 Jahren, als Schnurr herkam, nicht darauf gewartet haben, dass ihnen irgendein großspuriger Herdrocker aus dem Westen erklärt, wie man Hummer isst. Zu Preisen, wie man sie nur von Alain Ducasse aus Paris kannte, das Wagyu-Steak mit Baumpilz-Tatar, Beinscheibentee und Markklößchen-Schnee kostet hier 220 Euro. Andererseits klang ein Wechsel nach Leipzig für Köche damals in etwa so sexy wie ein Jobangebot aus der Betriebskantine. Vor allem wenn man, wie Schnurr, aus dem Schwarzwald kam, der Wiege der deutschen Gourmetküche, bei berühmten Köchen gelernt hatte und als Talent galt. Freunde zeigten Schnurr einen Vogel: Was willst du denn im kulinarischen Exil?

Wie fruchtbar die vermeintliche Gourmetwüste dann war, ist schnell erzählt: Das "Falco", benannt nach einem Turmfalkenpaar, das auf dem Hoteldach nistet, ist heute - wenn man Berlin ausnimmt - mit zwei Michelin-Sternen das bestbewertete Lokal Ostdeutschlands; der Gastroführer "Gault & Millau" kürte Schnurr zum "Koch des Jahres"; sein Lokal ist beliebt, 80 Prozent der Gäste kommen "aus Leipzig oder einem Radius von 200 Kilometern", schätzt Schnurr, "vom kleinen Beamten bis zum Bauunternehmer sitzen bei uns ganz unterschiedliche Leute, darauf bin ich stolz".

So wurde Leipzig zur einzigen Stadt im Osten, die mit einem Restaurant sogar regelmäßig internationale Feinschmecker und Prominente anzieht. Schnurr lässt in seinen Sprechsalven gern mal Namen fallen; fürs Wochenende hat sich die neue EZB-Chefin Christine Lagarde angekündigt, "vielleicht mit der Kanzlerin".

Einerseits verwundert das nicht: Es geht um eine Großstadt, die boomt und wächst, es gibt viele neue Jobs und ein altes Kulturbürgertum - und damit Menschen, die sich ein Gourmetessen leisten können oder wollen. Trotzdem ist ein Avantgarderestaurant vor allem dort, wo Hochküche keine Tradition hat, immer ein Himmelfahrtskommando. Ein ähnliches Lokal wäre nicht nur in Dresden oder Magdeburg, sondern auch in Bremen oder Duisburg schwer vorstellbar. Wieso also hatte ausgerechnet der krachige Schnurr mit seinem Luxusloft ausgerechnet im postsozialistischen Leipzig Erfolg?

Wenn man mit Verkürzungen zufrieden sei, dann habe er zwei Antworten darauf, sagt der Koch: "Die Leipziger sind cool, offen und neugierig". Zudem sei er damals, als ihn ein Investor fragte, ob er hier kochen wolle, "mit Haut und Haaren" gekommen. Letzteres war nicht selbstverständlich in einer Zeit, in der man in Ostdeutschland gewohnt war, dass viele westdeutsche Gastarbeiter sich wie Kolonialbeamte benahmen: herablassend Nachhilfe geben, ein paar Chancen und Gewinne abgreifen und dann ab nach Hause. Das sei natürlich die falsche Haltung, sagt Schnurr. Das Ost-West-Gerede hält er für übertrieben. Es habe in all den Jahren nie eine Rolle gespielt, dass er aus dem Westen kam, glaubt er. Und er habe nie falsche Rücksichten genommen oder gar versucht, seine Herkunft zu verbergen. "Wie auch, mit meinem breiten Badisch?"

Unter die Gäste mischten sich einst Stasispitzel und Lockvögel

Der Koch hat sich an einen Tisch am Fenster gesetzt und Mineralwasser eingeschenkt. Von hier wirkt Leipzig wie ein rausgeputztes Spielzeugmodell: altes Rathaus, Moritzbastei, die Nikolaikirche, von wo aus die Montagsdemonstranten im Herbst 1989 starteten. Für das "Falco" hat die Geschichte eine gewisse Ironie: Hier, im obersten Stock des damaligen Interhotels, war früher der berüchtigte "Club 27" untergebracht, ein verwanztes Lokal fürs meist männliche Messepublikum aus dem Westen; unter die Gäste mischten sich Stasispitzel und Lockvögel, die der Volksmund rüde "Westgeldnutten" nannte. Nichts im Gourmetrestaurant nimmt Bezug auf diese Vergangenheit, nicht die kleinste scherzhafte Reminiszenz. An diesem Ort interessierte Schnurr bei der ersten Besichtigung vor allem eins, erzählt er: "sein Potenzial".

Dass er richtig lag, davon zeugen die vielen Liebeserklärungen seiner Gäste, die im Flur mit Filzer die Wände beschreiben dürfen. Hier steht jeder neben jedem: Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann neben "drei Kumpels aus Jena" und Hollywoodstar George Clooney, der sich als jubelnde Comicfigur selbst zeichnete und "Perfect Dinner" urteilte. Die Wand wird Schnurr so schnell nicht weißeln lassen.

Ein Stück weiter liest man bei einem Geburtstagsgruß für den Chef den Wunsch: "Bleib' so gerade, konsequent, verrückt und sympathisch arrogant! Du kannst es Dir leisten." Damit wäre man dann wohl bei einem Erfolgsgeheimnis des 50-Jährigen: Peter Maria Schnurr weiß sich selbstbewusst auszuleben, und dasselbe gesteht er seinen Gästen zu.

Bei einem Koch betrifft das Ausleben zuerst den Küchenstil. Und dafür, dass die Gourmetküche für Leipzig Neuland war, verlangt Schnurr seinen Gästen einiges ab. Das verrät auch sein Kochbuch, ein Foodporn-Foliant von 6,8 Kilo, der auf 648 Hochglanzseiten stur die Rezepte seiner hochkomplexen Gerichte listet. "Klar französisch" nennt Schnurr sein Fundament; darauf knallt er dann eine internationale Aromen-Etage nach der anderen.

Die Karte liest sich wie eine Selbstverpflichtung zur Originalität, die in Anstrengung umschlagen kann. Je krasser, desto besser. Das beginnt bei den Witzelnamen der Gerichte, die "Bondage" (Kalbszunge) heißen oder "Welcome to Hollyfood" (ein Dessert aus Blaubeeren, Matcha, Hafer-Eis, Grünkohl, Kiwi und Gurkensaft, das die Superfood-Manie Kaliforniens ironisiert). Schnurr lässt gern Amuse Gueules auf Metzgerbeilen und Petit Fours auf Badelatschen servieren. Er tönt, solange sie qualitativ herausrage, mache er vor keiner Zutat halt. Und er kombiniert - trotz des schlechten Leumunds von Surf 'n' Turf-Gerichten - bevorzugt Meer und Land: Hummer mit Kalbsbries, Rotbarbe mit Sobrasada (mallorquinische Wurst), Makrele mit Taube, Kabeljau mit Entenleber, Kaviar mit Schweinebauch.

Bei Tisch geschieht dann Seltsames: Denn während Gäste noch über den Sinn mancher Kombination rätseln, sich womöglich fragen, warum ein badischer Koch in Sachsen französische Foie gras mit indischen Gewürzen bombardiert, ist Schnurr schon dabei, Einwände auszuräumen. Was schrill angekündigt war, erreicht den Tisch als Teller von subtiler Eleganz. Und vermeintlich Gegensätzliches findet am Gaumen so spannend wie harmonisch zueinander. Ob man seinen Stil nun wahnsinnig oder mutig findet, unstrittig ist, dass dieser Koch einen fulminanten Aromenbaukasten im Kopf hat.

Schnurr macht keinen Hehl daraus, dass er viele Sterneköche für albern gravitätisch hält. Er hat seit Jahren nicht bei Kollegen gegessen. Bei seinem letzten Drei-Sterne-Menü verlangte er vorzeitig die Rechnung und sagte: "Sechs Stunden und kein Ende? Das ist nicht euer Ernst! Eure Pralinen könnt ihr selber essen."

Damals habe es bei ihm "Klick gemacht". Mit mehr als zweieinhalb Stunden Menü will er keinen behelligen. Seine Gäste dürfen in Adiletten kommen, am Tisch den Laptop aufbauen und beim Essen telefonieren. Das passiert nicht oft, aber gelegentlich. Als junger Koch hätte ihn das beleidigt, sagt Schnurr, heute sei das okay. Niedrigschwellig soll sein Lokal sein. Er hat einen Gemeinschaftstisch aufgestellt, mit einem Schnuppermenü (99 Euro) und einem Gourmetmenü für Gäste bis 35 Jahre (144 Euro). Sein Sommelier ist auf ostdeutsche Weine spezialisiert. Zudem ist das Falco das einzige deutsche Sternerestaurant, in dem einmal im Monat ein DJ zur Clubnacht auflegt.

In Leipzig kommt das offenbar gut an.

Auch kann ein Spitzenrestaurant dazu beitragen, die Entwicklung der Gastronomie einer Stadt zu beflügeln, wie Lisa Angermann beweist. Die Köchin hat bei Schnurr gelernt und sechs Jahre im Falco gearbeitet, bis sie bei der Sat.1-Kochshow "The Taste" gewann und Ende 2018 mit dem "Frieda" ein eigenes gehobenes Lokal eröffnete. "Seitdem sind wir fast jeden Tag ausgebucht", sagt Angermann. Noch vor zehn Jahren habe es unterhalb der Spitzenküche kaum gute Restaurants in der Stadt gegeben, doch zuletzt hätten immer mehr junge Leute mit Ideen Lokale eröffnet. "Die Leipziger sind neugierig und nicht so gelangweilt wie die Berliner", sagt Angermann. Im November hat das Magazin Feinschmecker die besten Konzepte vorgestellt. Titel: "Spaß im Osten? Leipzig!"

Im Falco ist es inzwischen später Nachmittag, der Service deckt die Tische ein, was nicht allzu aufwendig ist; Decken gibt es nicht, Schnurr hat sie ersetzen lassen durch weiße Milchglasplatten als ironische Anspielung auf den überkommenen Pomp des Fine Dinings. Der Koch hat jetzt zweieinhalb Stunden geredet und sich selten unterbrechen lassen. Er scheint es zu genießen, das Klischee vom Dieter Bohlen der Spitzenküche zu bedienen, nur um ihm im nächsten Moment nicht zu entsprechen. Er kann wie ein Berliner Bling-Rapper klingen ("Wäre ich Mechaniker geworden, wäre ich heute bei Ferrari, nicht bei Opel.") - und danach von seiner bürgerlichen Herkunft erzählen. Der Vater, Sparkassendirektor und Hobbygourmet, hätte es gern gesehen, dass Schnurr Banker geworden wäre. Die Mutter fand Tischkultur so wichtig, dass die Kinder zu Hause täglich zwischen mehreren frisch zubereiteten Gerichten wählen durften: Suppe? Fisch? Apfelküchle?

"Buch ab, was du willst, aber in zehn Minuten hab ich den Laden für mich allein"

Als Gastgeber heißt Schnurr jeden willkommen, aber er trinkt nie mit Gästen, und er lässt sich siezen. Augenhöhe ist eine Art Obsession von ihm. Ein Leipziger Millionär warf ihm im Eröffnungsmonat mal seine Kreditkarte vor die Füße und rief: "Buch ab, was du willst, aber in zehn Minuten hab ich den Laden für mich allein." Der Koch antwortete: "Sie kriegen das Restaurant auch für einen Monat, aber nicht so. Reservieren Sie gefälligst im Voraus, und bringen Sie ordentlich Knatter mit." Der Millionär war begeistert. Bis heute kommt er 30-mal im Jahr. Er ist Schnurrs Lieblingsstammgast. Neben einer pensionierten Lehrerin, die regelmäßig aus Stuttgart anreist.

Blickt man von den Tischen im Falco auf die Stadt, in der nun langsam die Lichter angehen, dann hat sie etwas Glamouröses. Goethe hat Leipzig im "Faust I" als "ein klein Paris" bezeichnet. Es war ironisch gemeint. Doch die Leipziger taten das einzig Richtige: Sie ignorierten den Spott und trugen das Zitat zu Markte, auf dass die Leute in "Auerbachs Keller" strömten.

200 Jahre später bringt auch Peter Maria Schnurr für die Leipziger ein bisschen Paris auf den Tisch. Es ist ein Paris, wo der Koch Jogginghose trägt und der Gast laut rufen darf, dass der Hummer "geil" ist. Ein Paris, wo man in Adiletten George Clooney oder Christine Lagarde begegnen könnte.

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019/sbeh
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