Dem Geheimnis auf der Spur:Die Tote aus der Fabrik

Lesezeit: 3 min

Bella Wright war erst 21 Jahre alt, als sie auf dem Rückweg von einem Besuch bei ihren Verwandten erschossen wurde. (Foto: Mauritius images/Alamy Stock Photos)

Im Sommer 1919 wurde die junge Arbeiterin Bella Wright in einem englischen Dorf erschossen aufgefunden. Warum der Fall bis heute bewegt. 

Von Carolin Werthmann

Little Stretton ist eines dieser Dörfer, die so lange blinde Flecken auf der Weltkarte bleiben, bis irgendwann ein Mord geschieht. Plötzlich ist dieser Ort seiner Unbedeutsamkeit beraubt, wegen der seltsamen Dinge, die dort geschehen. Literatur und Film lieben solche Dörfer. In der Netflix-Serie "Dark" verschwinden Kinder im fiktiven Winden, in der ebenso fiktiven britischen Küstengemeinde Broadchurch wird in der gleichnamigen Serie ein Junge ermordet, und die Literatur bediente sich schon vor gut 15 Jahren an einer Familientragödie im bayerischen Hinterkaifeck und nannte das Ganze "Tannöd". Vorbilder für all diese Dörfer und ihre Abgründe gibt es genug in der Realität. Eines davon könnte Little Stretton sein.

SZ PlusDem Geheimnis auf der Spur
:Die Sadistin von New Orleans

Um die Grausamkeit der Sklavenhalterin Delphine LaLaurie ranken sich viele gespenstische Geschichten.

Von Florian Welle

In Little Stretton soll man ganz nett wandern können, liest man. Alles so schön grün, es liegt ja auch in England. Aber schon ist da die erste Unheimlichkeit, dieses Hotel am Ortseingang zum Beispiel, ein Premier Inn, das im Dunkeln, zumindest auf Bildern, an Norman Bates' Motel aus dem Hitchcock-Film "Psycho" erinnert. Grünland im Nirwana hat immer seine Tücken. Viel Gras, viele Bäume, leere Landstraßen und kaum Menschen, die helfen können, wenn das passiert, was Bella Wright passierte, vor etwas mehr als 100 Jahren.

Am 5. Juli 1919 wurde Annie Bella Wright, 21 Jahre jung, im englischen Little Stretton ermordet. Es dämmerte, als ein Bauer sie leblos auf der Straße fand, neben ihr ein Fahrrad. Zuerst glaubten Bauer und Polizei an einen Unfall. Der Hinterreifen war kaputt, sie könnte vom Rad gefallen sein, böse gestürzt und auf den Kopf geflogen. Aber sie hatte keine Beule. Sie hatte ein Loch im Kopf und Blut verloren. Man entdeckte die Schusswunde erst später, sie trug einen Hut, und keiner kam wohl auf die Idee, ihn abzunehmen.

Um Geld zu verdienen, musste sie in der Spätschicht arbeiten

Die Tat ist bis heute ein Rätsel, unglücklicherweise einer von unzähligen nie geklärten Fällen, ein klassisches wie tragisches "Aktenzeichen XY ungelöst". Vor allem aber ist die Geschichte des Opfers eine Geschichte der Emanzipation, die dem Mädchen paradoxerweise zum Verhängnis wurde und eine Frage provoziert, die heute unbequemer ist denn je: Die Welt ist schlecht, wissen Mädchen denn nicht, was passieren kann, wenn sie im Dunkeln allein unterwegs sind? Wissen sie schon, aber würde Angst sie hindern, nach draußen zu gehen, gäbe es niemals Fortschritt.

Bella Wright fuhr immer mit dem Fahrrad. Sie arbeitete bei Bates Rubber Works, einer Gummifabrik fünf Kilometer von ihrem Elternhaus in Stoughton entfernt. Sie machte dort Spätschichten, fuhr nachmittags hin, abends wieder zurück. Das war ungewöhnlich für eine junge Frau zu damaliger Zeit, so ganz ohne Begleitung, aber sehr wahrscheinlich blieb ihr nichts anderes übrig, um Geld für die Familie zu verdienen.

Es ging auch alles gut, eine Weile. An jenem 5. Juli hatte sie einen freien Tag und besuchte Verwandte in der Nachbargemeinde Gaulby. Zeugen sagten später, auf ihrem Weg dorthin habe man Bella an der Seite eines Mannes gesehen. Beide auf Fahrrädern, eines davon erbsengrün, so steht es im Archiv des Leicester Chronicle . Die beiden sollen vertraut miteinander ausgesehen haben, so als kannten sie sich. 35 Minuten nach ihrem Besuch in Gaulby findet der Bauer ihren toten Körper auf der Straße in Little Stretton.

Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde der Fall 2016, als die Stadt Leicester eine Fahrradtour entlang der Route zwischen Stoughton, Little Stretton und Gaulby inszenierte, unter anderem mit Nachkommen aus der Familie des Opfers, um das Geschehen zu rekonstruieren.

Der Tatverdächtige hatte früher schon ein Mädchen belästigt

2019 kuratierte die De-Montfort-Universität in Leicester eine Ausstellung zum Gedenken an das Mädchen. 100 Jahre nach dem Mord, der bis heute zu den berühmtesten ungeklärten Kriminalfällen der Region zählt, wollten die Organisatoren an das Opfer erinnern. Viel zu lange habe sich das Interesse hauptsächlich auf ihren mutmaßlichen Mörder gerichtet. Wer Bella Wright war, schien weniger wichtig zu sein als die Frage nach dem Täter. Die Polizei Leicester steuerte für die Ausstellung eine Menge Material bei, Protokolle und Notizen der damaligen Ermittler und eines der wichtigsten Beweisstücke: das grüne Fahrrad.

Nachdem die Polizei im Sommer 1919 Bella Wrights Schusswunde untersuchen ließ, nachdem sie beerdigt und betrauert, nachdem sogar eine Kugel im Gras neben dem Tatort gefunden worden war, suchten die Beamten monatelang vergeblich nach Täter und Motiv. Zwar wussten sie, dass Bella kurz vor ihrem Tod von einem Unbekannten begleitet worden war, doch um wen es sich handelte, blieb ein Geheimnis - bis man im Februar 1920 Teile eines grünen Fahrrads aus dem Fluss zog. Als Besitzer wurde Ronald Light ausfindig gemacht, Ex-Soldat, 33 Jahre alt mit verdächtiger Vergangenheit. Als Jugendlicher soll er von seiner Schule verwiesen worden sein, weil er einem Mädchen den Rock hochgezogen hatte. Der Mordprozess gegen ihn als einzigen Tatverdächtigen begann im Sommer 1920. Doch er führte ins Leere. Lights Anwalt schmetterte sämtliche Vorwürfe ab, die Beweislage blieb zu dünn.

Neues Licht auf den Fall warf ein anderes Zeugnis, allerdings erst Jahrzehnte später: das mit Schreibmaschine verfasste Protokoll eines Polizeibeamten, der Ronald Light Tage nach seinem Freispruch noch einmal getroffen hatte. Er habe Bella Wright tatsächlich umgebracht, soll Ronald Light ihm verraten haben. Versehentlich, ein Unfall. Sollte sein Geständnis publik werden, würde er auf seiner Unschuld beharren. Das Schriftstück wurde zu den Akten gelegt. Und nie mehr angerührt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDem Geheimnis auf der Spur
:Flammen auf dem Meer

1932 sank der Luxusdampfer "Georges Philippar" mit einem berühmten Journalisten an Bord. War das Unglück in Wahrheit ein Attentat?

Von Rudolf von Bitter

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: