Lebensmittelskandale und ihre Folgen:Die Angst isst mit

Bis zum Ehec-Skandal waren Vegetarier auf der sicheren Seite. Nun scheint sogar das Gemüse bedenklich. Müssen wir uns durch Essen bedroht fühlen? Der Ernährungspsychologe Thomas Ellrott glaubt: nein - wenn wir den Tatsachen ins Auge sehen.

Violetta Simon

Bis vor Kurzem waren Vegetarier auf der sicheren Seite. Wer hätte gedacht, dass man sich eines Tages vor Gemüse fürchten muss? Wieder ein Lebensmittel, das mit einem Skandal behaftet ist, wieder zieht sich die Schlinge enger. Was kann man eigentlich noch essen? Und welche Auswirkungen hat es auf den Menschen, wenn er seiner Nahrung ständig misstrauen muss? Das Institut für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen setzt sich mit der ganzheitlichen Betrachtung des menschlichen Essverhaltens auseinander. sueddeutsche.de hat mit dem Institutsleiter und Ernährungspsychologen Thomas Ellrott gesprochen.

Thomas Ellrott

Professor Thomas Ellrott sieht in Lebensmittelskandalen auch eine Chance für Hersteller und Verbraucher: den Lerneffekt. Der Ernährungspsychologe warnt indes davor, dass Verbraucher mit dem Vertrauen auch etwas anderes verlieren: das Ritual des gemeinsamen Essens.

(Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Das Thema Ernährung wird immer wieder durch Lebensmittelskandale überschattet. Seit Ehec ist selbst Gemüse, das bis dahin immer als gesund galt, tabu. Wird Essen zur Bedrohung für den Menschen?

Thomas Ellrott: De facto hat sich nichts verändert. Auch jetzt hat der Verbraucher die Möglichkeit, das Risiko einer Erkrankung gen Null zu fahren. Wir können eine Zeit ohne Frischware auskommen, das ist gesundheitlich unbedenklich. Problematisch ist es für die Erzeuger, die auf ihrer Ware sitzenbleiben.

sueddeutsche.de: Rinderwahn, Vogelgrippe, Schweinepest, Dioxin - können Sie sich vorstellen, dass jemand das Vertrauen in Essen verliert?

Ellrott: Das betrifft nur jenen Teil der Bevölkerung, der sich besonders viele Gedanken um Ernährung macht.

sueddeutsche.de: Halten Sie diese Leute für Hysteriker?

Ellrott: Man könnte sie als Orthorektiker bezeichnen, die stets versuchen, das bestmögliche zu essen - was am Ende nicht gelingen kann. Diese Menschen sind im Moment besonders verunsichert und beschäftigen sich den ganzen Tag mit diesen Fragen, so dass sie Schwierigkeiten haben, ihren Alltag zu bewältigen.

sueddeutsche.de: Und wie verhält sich der Rest?

Ellrott: Viele sind Pragmatiker, die sich an den Meldungen des Robert-Koch-Instituts orientieren und Produkte konsumieren, die als ungefährlich gelten.

sueddeutsche.de: Sie glauben also nicht, dass es Auswirkungen hat, wenn wir einem der essenziellsten Bedürfnisse - der Nahrungsaufnahme - nicht mehr uneingeschränkt nachkommen können?

Ellrott: Man muss zwischen einer kurzfristigen - einer Panikreaktion - und einer langfristigen Auswirkung unterscheiden. Fast jedes Lebensmittel hatte schon einmal einen Skandal und es besteht immer ein gewisses Risiko. Dennoch können wir darauf nicht mit kompletter Enthaltsamkeit reagieren. Wir sind gezwungen zu essen. Also greifen wir auf bewährte Erfahrungen zurück: Wir kochen Lebensmittel, bevor wir sie essen, bereiten sie so zu, dass wir uns sicher fühlen ...

sueddeutsche.de: ... und essen das, was eben noch als gefährlich galt, munter weiter. Bis der nächste Skandal eintritt. Der Verbraucher muss sich doch wie ein Versuchskaninchen fühlen!

Ellrott: Gefühlt ja, real nein. Trotz der Ehec-Seuche sind Lebensmittel bei uns etxrem sicher. Durch die umfangreiche Berichterstattung überschätzen wir das tatsächliche Risiko erheblich. Die mediale Kommunikation schützt den Verbraucher aber auch. Denn Industrie und Politik tun ja alles, um das Problem wieder in den Griff zu bekommen. Bei bleibenden Risiken wie zum Beispiel Salmonellen sind wir als Verbraucher gefragt, indem wir gewisse Hygieneregeln beachten. So gesehen haben diese Skandale immer auf beiden Seiten einen Lerneffekt.

sueddeutsche.de: Immer mehr Menschen reagieren mit einem sonderbaren, selektiven Essverhalten. Die so genannte Laktoseintoleranz scheint sich derzeit als Mode-Allergie zu etablieren. Woher kommt das?

Ellrott: Beim Essen gibt es ein wichtiges Lernprinzip, das sogenannte Imitationslernen. Wenn etwa ein Verwandter auf Laktose verzichtet und begeistert davon berichtet, wie gut er sich nun fühlt, werden solche Verhaltensweisen oft übernommen, ohne dass es einen physiologischen Grund dafür gibt. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist gering: Schaden tut es nur dem Portemonnaie - und eventuell dem Genuss.

Je mehr Wissen, desto mehr Angst

sueddeutsche.de: Aber warum nimmt dieses Verhalten derart zu?

Ellrott: Wir ertrinken praktisch in der Flut von Botschaften rund um Ernährung und Gesundheit. Durch die vielen Medienberichte, die stets mit Skandalen assoziiert sind, wird der informierte Stadtmensch immer wieder verunsichert. Am glaubwürdigsten bleiben die Erfahrungen und Ratschläge von Freunden und Verwandten.

sueddeutsche.de: Wie wirkt sich diese Verunsicherung bei der Wahl der Lebensmittel aus?

Ellrott: Da geraten Aspekte viele durcheinander. Erstens die Lebensmittelsicherheit - sie steht im Moment im Vordergrund. Dann der Aspekt Gesundheit - Übergewicht, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebsrisiko. Schließlich noch der Aspekt Nachhaltigkeit, der sich mit Klima, Tierschutz oder fairen Bedingungen für die Erzeuger auseinandersetzt. Das alles ist für den Verbraucher schwer zu differenzieren. Sobald sich diese Bereiche in der Diskussion und im Gefühl des Verbrauchers miteinander vermengen, entsteht Widersprüchlichkeit, und daraus resultiert Ratlosigkeit.

sueddeutsche.de: Wird Gemüse nun einen Imageschaden erleiden - selbst wenn man es offiziell wieder bedenkenlos essen kann?

Ellrott: Bei der bedrohlichen Assoziation handelt es sich um eine Verunreinigung von außen, die der Mensch aber beseitigen kann. Die positiven Eigenschaften von Gemüse - viele Vitamine, geringe Kalorienmenge - bleiben davon unberührt. Das ist für die öffentliche Kommunikation wichtig. Gemüse wird also wieder Vertrauensträger, sobald die Verunreinigung eliminiert ist.

sueddeutsche.de: Wer sich in der Kantine am Salatbuffet bedient, hat ja schon immer bei Kollegen einen guten Eindruck gemacht.

Ellrott: Wobei man immer hinterfragen sollte, ob die Auswahl in diesem Falle nicht im Sinne von sozialer Erwünschtheit erfolgt.

sueddeutsche.de: Sie meinen, unbeobachtet würden wir zum Schweinebauch greifen, häufen aber rote Beete auf den Teller, um unseren Mitmenschen etwas vorzumachen?

Ellrott: Nennen wir es "imponieren". Soziale Kontrolle führt tatsächlich zu verantwortungsbewussteren Entscheidungen. Es gibt ein schönes Coffeeshop-Experiment mit Kaffee aus fairem Handel. Der wichtigste Faktor für die Wahl des fairen Kaffees war, ob jemand bei der Bestellung am Tresen hinter dem Kunden in der Schlange stand.

sueddeutsche.de: Halten Sie die öffentliche Diskussion um das Essen für realitätsfern?

Ellrott: Absolut. Sehen Sie sich meinetwegen einen Veganer-Blog an und dann schauen sie, was die meisten Menschen im Discounter kaufen - eine komplett andere Welt! Das eine ist eine abgehobene, teils ideologisch überlagerte Diskussion, das andere die quantitative Realität.

sueddeutsche.de: Das heißt, solche Ideale sind auf Dauer nicht umsetzbar?

Ellrott: Wenn dann nur langfristig. Derzeit betrifft es eher eine kleine Elite, die den Weitblick hat - und die wirtschaftlichen Möglichkeiten. Dem Durchschnitt der Bevölkerung kommt es in erster Linie auf Genuss und Geschmack an, und natürlich zählt der Preis.

sueddeutsche.de: Sind wir wirklich so eine homogene Herde? Oder unterscheiden wir uns wenigstens ein bisschen voneinander.

Ellrott: Natürlich gibt es unterschiedliche Verbrauchertypen. Nach einer Nestlé-Studie kann man die Deutschen ganz grob in drei Gruppen einteilen: Etwa ein Drittel der Bevölkerung machen die Gesundheitsbewussten aus. Diese Gruppe hat derzeit die größten Probleme aufgrund der vielen widersprüchlichen Botschaften. Dann gibt es die Gleichgültigen, die sagen: "Das wird alles viel heißer gekocht als es gegessen wird". Denen braucht man mit Gesundheitsmotiven nicht kommen, die essen über Geschmack, Gewohnheit, Preis oder Convenience - es muss einfach und schnell gehen. Die dritte Gruppe, die "Multioptionalen", ist im Wachsen begriffen. Dabei handelt es sich um Personen, die eigentlich Nachhaltigkeit und Gesundheit anstreben, die im Alltag aber so eingespannt sind, dass sie es nicht schaffen.

sueddeutsche.de: Welche Rolle wird Essen in Zukunft für den modernen Menschen spielen - werden die gemeinsamen Mahlzeiten endgültig aussterben?

Ellrott: Leider ja, doch es gibt eine Art von Mahlzeit, die passt sehr gut in unsere Zeit und ist äußerst positiv besetzt: das Grillen. Da stehen meist Männer, die sonst wenig mit der Zubereitung von Essen zu tun haben, am Grill, man lädt Freunde ein und isst miteinander. Dieser Aspekt ist für die Gesundheit der Menschen wichtig - und zwar für die soziale. Ich kann körperlich vollkommen gesund sein, doch wenn ich in kein soziales Netz eingebunden bin, fehlt mir ein wichtiger Bestandteil dessen, was der moderne Mensch als Gesundheit definiert. Etwas, das meine Lebenserwartung ebenso beeinflussen kann wie die reine Nahrungsaufnahme. Wir brechen das Thema Essen oft auf die negativen Aspekte herunter und schaden damit dem Ritual des gemeinsamen Essens - und damit uns selbst.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: