Süddeutsche Zeitung

Lebensgefühl Retro:Pony, Pin-up, Petticoat

"Vintage" und "Retro" boomen: In Deutschland gibt es eine blühende Mode- und Musiklandschaft, die den Stil der Nachkriegszeit zu neuem Leben erweckt.

Janine Adomeit

Die hüftschwingenden Herren tragen Strohhut und Jackett, die Damen Mary-Jane-Schuhe, und aus den Lautsprechern tönen die Andrews Sisters: Was an eine Broadway-Szene aus den vierziger Jahren erinnert, ist in Wirklichkeit eine typische Swing-Party im Münchner Tanzstudio "Cat's Corner". Dort blühen Lindy Hop, Balboa und Shag wieder auf, die populären Gesellschaftstänze der US-amerikanischen Wirtschaftskrisenzeit.

Die Tanzschule profitiert von einer Lust an der Vergangenheit, die immer mehr junge Menschen packt. Mittlerweile existiert eine lebendige Subkultur der gelebten Nostalgie mit immer neuen Schnittstellen. Eine davon ist die Tanz-Szene. "Cat's Corner"-Inhaberin Christine von Scheidt weiß, warum ihre Unterrichtsstunden vermehrt Zulauf haben: "Vom Swing geht nicht nur eine ganz besondere Lebensfreude aus. In der Krise ist Tanzen auch ein sehr kostengünstiges Hobby." Vielen geht es auch darum, einen Abend lang in eine andere Haut zu schlüpfen: Sie entdecken den entsprechenden Look des Swing, wie die Inhaberin selbst. Von den zur Hochfrisur getürmten blonden Rastazöpfchen abgesehen, erinnert Christine von Scheidt mit ihrem blau-weißen Kleid im Marinelook und dem schwarzen Lidstrich an diesem Abend selbst an ein "Wartime Sweetheart" - in den USA ein Spitzname für modebewusste, attraktive junge Frauen während des Zweiten Weltkriegs.

Die vierziger, fünfziger und sechziger Jahre - die Zeit vor Globalisierung und Internet - erlebt heute ihr Comeback. Nicht nur in den Tanzschulen. Auch Fernsehmacher, Musikproduzenten und Designer bedienen sich reichlich am alten Chic. Die US-Serie Mad Men etwa, die in einer New Yorker Werbeagentur um 1962 spielt, hat zum dritten Mal in Folge den Emmy in der Kategorie "Beste Drama-Serie" eingeheimst. Popsternchen Katy Perry wird ohne Pumps, Ponyfrisur und bonbonfarbene Korsagentops auf den roten Teppichen erst gar nicht erkannt. In den neuesten Kollektionen von Louis Vuitton sind Tellerröcke aus Leder zu sehen, in den Schaufenstern der Bekleidungskette "American Apparel" findet man Petticoats und über dem Bauch geknotete Tops.

Der Glamour der Vergangenheit spielt offenbar eine bedeutende Rolle in einer Gesellschaft, in der uns alles offensteht und auch der Begriff der Identität immer flexibler wird. Antje Schünemann vom Hamburger Trendbüro erklärt, warum: "Zu viele Freiheiten machen Angst - und Retro-Elemente geben die Verlässlichkeit zurück, die uns fehlt. Gerade die amerikanischen fünfziger und frühen sechziger Jahre stehen für eine heile Welt, für einen festen Rahmen, der das Leben bestimmt. Stellen Sie sich mal vor: Das war eine Zeit, in der Ehen in der Regel bis zum Tod hielten. Und das Sexsymbol Marilyn Monroe trug Kleidergröße 40. Was für uns 2010 nach Science-Fiction klingt, war damals Normalität."

Eine Normalität, auf die viele unterdrückte Sehnsüchte von heute projiziert werden. Der Wunsch nach Zusammenhalt zum Beispiel. Julia Naujoks, Inhaberin des auf Fünfziger-Jahre-Frisuren spezialisierten Münchner Salons "Pony und Kleid", kennt sich aus in der Vintage-Szene. Sie sagt, es gehe innerhalb dieser Subkultur darum, gemeinsam ein bestimmtes Lebensgefühl zu zelebrieren. Die Frisur sei dabei, ähnlich wie die Kleidung, eine Art Kommunikationsmittel: "Man möchte sich vom gesellschaftlichen und modischen Einheitsbrei abgrenzen. Wer sich anders verhält oder anders kleidet, will nicht aus Prinzip ein Außenseiter sein, sondern viel lieber mit Gleichgesinnten die gemeinsamen Ansichten teilen. Das ist ein Stück Identitätsfindung." Deshalb kommen die männlichen Kunden oft mit Fotos von Ikonen des Rebellentums wie James Dean, Elvis Presley oder Johnny Cash in den Laden. Die Haarschnitte und Tollen, die Naujoks und ihre Kollegin dann kreieren, tragen klangvolle Namen wie "Hawleywood Puff", "Johnson Boogie" oder "The Boston". "Aber auch, wenn die Jungs tätowiert sind und gerne mal wie Rüpel auftreten - eigentlich stehen bei ihnen Höflichkeit und Anstand, klassische Werte, an erster Stelle."

Das ist nicht notwendigerweise paradox. Wer sich bei "Pony und Kleid" stylen lässt, den fasziniert nicht nur die jugendliche Protestkultur der damaligen Zeit, sondern auch ihre Spießigkeit, kurz gesagt: ihre charakteristische Doppelmoral. Eine der häufigsten Damenfrisuren, um die Naujoks von ihren Kundinnen gebeten wird, sind die eher prüde anmutenden "Victory Rolls", am Oberkopf aufgedrehte Haarschnecken. Getragen werden diese dann allerdings zusammen mit einem rund geföhnten Pony, dem Markenzeichen des berühmten Fetisch-Pin-Ups Bettie Page, und in Kombination mit auffällig roten Lippen. Julia Naujoks sieht darin eine Möglichkeit, erotisch und geheimnisvoll zu sein: "Es passt zur Vintage-Mode, deren Sex-Appeal eher ein indirekter ist: Viele Kleider in diesem Stil sind hochgeschlossen bis zum Kinn, dabei aber so eng geschnitten, dass die Körperform überbetont zur Geltung kommt."

Die niederländische Designerin Caroline Poiesz, die Mode im Stil der fünfziger Jahre entwirft und in ihrem Laden "Very Cherry" in Rotterdam und über ihre Website verkauft, sieht das genauso: "Der Vorteil der alten Schnitte ist, dass sie jeder Frau stehen, ihre Schokoladenseiten betonen und die Problemzonen kaschieren. Es gibt Outfits für jeden Geschmack: von der Glamour-Variante bis hin zum schlichten, kleinen Schwarzen."

Auch die Musik der Fünfziger, insbesondere der in den amerikanischen Südstaaten verwurzelte Rockabilly - eine Mischung aus Rock'n'Roll und Countrymusik - ist wieder lebendig und wird von vielen Bands neu interpretiert: Das junge Quartett "Chili & The Baracudas" aus Wien bespielt seit 2003 die Bühnen im deutschsprachigen Raum. Dabei treten die Vier so authentisch wie möglich auf. Frontfrau Chilis Liebe zum Rockabilly flammte schon in der Jugend auf. Sie schätzt an der Musikrichtung besonders das Ehrliche, Handgemachte und schwärmt vom "stampfenden Rhythmus, dem ausdrucksvollen Gesang und den dreckigen, provozierenden Gitarren". Zu ihren Konzerten kommen aber nicht nur typische Rockabilly-Fans mit Pomade im Haar: Charakteristisch für die Retro-orientierten Subkulturen ist, dass sie sich untereinander mischen.

Ein Phänomen, dass sich auch am Stil der "Stuttgart Valley Rollergirlz" beobachten lässt. Die etwa 30 Frauen bilden eines der wenigen Rollerderby-Teams in Deutschland. Der Sport entstand in den dreißiger Jahren in Chicago als Ausdauerrennen auf der Rollschuhbahn - heute wird er als wilde Aufholjagd umgesetzt, für die ein möglichst auffälliges Outfit Pflicht ist, das die Gegnerinnen einschüchtert. Dafür kombinieren die Rollergirlz mit Vorliebe Elemente der Fünfziger mit denen des Punk: dramatisches Hollywood-Make-Up und knappe Hot-Pants im Leopardenmuster zusammen mit bunt gefärbten Haaren, zerrissenen Netzstrümpfen und jeder Menge Piercings. Pralle Weiblichkeit plus Angriffslust. Auch die "Kampfnamen" der Teammitglieder - "Bet. T. Bomb", "Rambona", "Polly Purgatory" - erinnern an eine Mischung aus Pin-Up-Mädchen und sechziger Jahre-Science-Fiction-Heldin Barbarella. Vera Wendt, eines der Stuttgarter Rollergirlz, bringt die Faszination am Retro-Kult auf den Punkt: "Man kann eine zweite Identität erschaffen und ausleben."

Dabei geht es nicht darum, die Alltags-Identität völlig abzustreifen. Denn die Retro-Subkultur will nur jene Werte bewahren, die uns in der heutigen, von Beliebigkeit geprägten Welt ein wenig von dem Glamour, aber auch der Sicherheit vergangener Jahrzehnte zurückgeben. Schon deshalb, weil eben früher doch nicht alles besser war.

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