Leben ohne Beine:"Ich habe mich nie unvollständig gefühlt"

Leben ohne Beine: Silke Naun-Bates: Zwar war ich immer ein positiver Mensch, doch die Qualität meines Lebens ist durch das Überwinden dieser Krise und der nachfolgenden Erlebnisse nochmals gestiegen.

Silke Naun-Bates: Zwar war ich immer ein positiver Mensch, doch die Qualität meines Lebens ist durch das Überwinden dieser Krise und der nachfolgenden Erlebnisse nochmals gestiegen.

(Foto: privat)

Silke Naun-Bates verlor mit acht Jahren ihre Beine. Die zweifache Mutter will einfach nur als "normal" angesehen werden.

Protokoll: Lars Langenau

Als Silke Naun-Bates das Hochhaus der SZ besucht, wird sie fasziniert angeschaut. Den Betrachtern steht die Frage im Auge: Wo sind die Beine? Hier ist ihre Geschichte:

"Mit acht Jahren erfüllte sich mein sehnlichster Wunsch: Ich bekam einen Hund. Ein kleiner, pechschwarzer, frecher Mischling aus dem Tierheim. Ich war unglaublich stolz auf ihn. Zum Gassigehen musste ich von meinem Zuhause immer über einen Bahnübergang. An einem Tag im April 1976 führte ich Richie mit meiner Schwester und zwei Freunden aus. Der Hund sah etwas, riss sich los und ich hinterher. Als Kind bin ich oft gestolpert. Die Beine sind im Weg, sagte meine Oma immer. Auf den Bahnschienen bin ich ausgerutscht und hingefallen. Ich erinnere mich noch daran, dass meine Schwester rief: 'Silke, pass auf der Zug!' Danach weiß ich nichts mehr.

Niemand hatte damit gerechnet, dass ich den Unfall überlebe. Erinnerung habe ich erst wieder, als ich in einem Krankenhaus in Bochum aufwachte. Ein Güterzug hatte mich erwischte. Vielleicht wären die Narben bei einem Schnellzug glatt, doch so wurden mir meine Beine herausgerissen. Ich wurde ins künstliche Koma versetzt, bin irgendwann aufgewacht und mir war sofort alles klar. Ich wusste, was geschehen war. Ich schaute zur Bestätigung unter die Bettdecke: Meine Beine waren unterhalb der Hüfte fort. Ich erinnere mich noch, dass ich keine Angst hatte. Es war, als hätte es so sein sollen. Klingt vielleicht verrückt, doch so war es.

Als mein Vater in diesem Moment ins Zimmer kam, habe ich gelächelt und gesagt: 'Ich habe keine Beine mehr, aber wir schaffen das schon.' Dieses Bild und dieser Satz müssen sich bei ihm eingebrannt haben. Meine Eltern haben sich nie anmerken lassen, dass ich nicht 'normal' war. Aber ich habe mich ja auch niemals unvollständig gefühlt. Und ich bin nicht der einzige Mensch mit weniger Gliedmaßen, der so empfindet. Ich habe bereits einige kennengelernt. Es ist für Menschen, deren Körper vollständig sind, oft nur schwer nachvollziehbar.

Prothesen empfand ich als Fremdkörper

Beide Beine wurden unterhalb der Hüfte amputiert. Da sie bei dem Unfall herausgerissen wurden, war das Becken offen. Dies wurde durch Hauttransplantationen wieder geschlossen. In der Rehaklinik probierte ich dann auch Prothesen aus, entschloss mich jedoch, sie nicht zu nutzen. Zum einen war ich damit zu unbeweglich und viel zu langsam. Zum anderen empfand ich sie als Fremdkörper. Ich fühlte mich damit nicht wohl. Und so brachte ich mir selbst das Gehen mit den Händen bei.

Phantomschmerzen hatte ich nur in einer kurzen Phase. Heute denke ich manchmal, dass mein Fuß juckt. In meinen Erinnerungen muss ich abgespeichert haben, dass ich mal Beine hatte, denn ich kann spüren, wie das ist, durch Pfützen zu laufen. Immerhin habe ich ja noch die Gelenke, mit denen die Beine bewegt wurden. Ich wollte als Kind Rettungsschwimmerin werden, dieser Traum war mit acht Jahren geplatzt. Doch ich war nur einen Moment traurig. Es ist nicht mein Beruf geworden, aber ich gehe heute noch gerne schwimmen.

Später wollte ich Streetworkerin werden, doch das wurde mir ausgeredet. Trotzdem habe ich dann im sozialpädagogischen Bereich gearbeitet und bin auch da viel herausgekommen. Mein Weg war vielleicht nicht gerade, aber meine Ziele habe ich trotzdem erreicht.

Ich wollte bereits als Kind schnell selbständig sein. Auch nach dem Unfall war ich rasch wieder beweglich und konnte vieles allein. Ich musste über Jahre hinweg üben, Hilfe anzunehmen. Das ist nicht immer schön - etwa bei öffentlichen Toiletten. Aber so ist eben der Deal: Ich mache auch das oder ich schränke mich selbst ein.

Als junge Frau war ich fast nie im Rollstuhl unterwegs und ging selbst in die Disko auf den Händen abstützend. Es war oft lustig, wenn Männer mich dann an der Bar zum Tanzen aufforderten. Je nachdem wie dieser Mann mich ansprach, reagierte ich unterschiedlich. Wenn sie mir auf die Nerven gingen, sprang ich einfach vom Hocker, in der Hoffnung, dass sie sich erschrecken und verschwinden. Andere klärte ich freundlich auf.

Manchmal sind die Reaktionen auf mich schon komisch. Gerade Frauen, die anscheinend ein Problem mit ihrem Körper haben, sind von meinem Anblick irritiert: Sie meinen, sie hätten mit ihren nicht perfekten Körpern ein Problem, einen Mann zu finden. Dabei denke ich, dass Erfolg bei der Partnersuche nur wenig mit dem Aussehen, sondern vor allem mit der Ausstrahlung zu tun hat. Wenn wirklich Liebe im Spiel ist, ist die äußere Schönheit des anderen nicht mehr ausschlaggebend. Ich bin ein lebender Beweis dafür.

Trotzdem bringt diese Erkenntnis anderen Menschen nichts. Grundsätzlich erlebe ich zwei Reaktionen: Ich motiviere Menschen, ihre Behinderung anzunehmen und ein normales Leben zu führen. Andere aber demotiviere ich.

Ich wollte nie in eine Schublade gesteckt werden

Leben ohne Beine: Kinderbild von Silke Naun-Bates: Als Kind bin ich oft gestolpert. Die Beine sind im Weg, sagte meine Oma immer.

Kinderbild von Silke Naun-Bates: Als Kind bin ich oft gestolpert. Die Beine sind im Weg, sagte meine Oma immer.

(Foto: privat)

Beim Einkaufen werde ich oft noch angeglotzt. Ich selber nehme das in der Regel nicht so wahr, doch mein Mann oder Menschen, die mit mir unterwegs sind, umso mehr. Mir selber fällt es erst auf, wenn sie wirklich direkt vor mir stehen bleiben oder mich ansprechen. Manchmal werde ich bis zum Parkplatz verfolgt und mit offenem Mund beobachtet, wie ich die Sachen im Kofferraum verstaue, mich auf den Fahrersitz schwinge und losfahre. Manchmal kommen auch Menschen auf mich zu und sagen, dass sie es bewundern, wie ich das mache. Wenn es beiläufig ist, dann kann ich das inzwischen annehmen und fühle mich sogar geschmeichelt. Doch es fällt mir noch immer schwer, das nachzuvollziehen. Für mich ist das Normalität.

Ich habe nie jemandem die Schuld für meinen Unfall gegeben, heute habe ich auch wieder einen Hund aus dem Tierheim. Aber ich selbst hatte Schuldgefühle. Etwa, als meine Eltern ein Haus bauten und alles behindertengerecht machen wollten. Wenn sie sich stritten, hatte ich das Gefühl, ich sei schuld an diesem Streit.

Selbst Weitsprung habe ich versucht

Auch wollte ich nie in eine Schublade gesteckt werden. Meine Mutter hat einmal versucht, mich in eine Behinderten-Kegel-Gruppe zu stecken, nur: Das waren Menschen mit geistiger Behinderung. Alle total lieb, aber ich war da total fehl am Platz. Während der Schulzeit durfte ich manchmal beim Sport bei verschiedenen Dingen nicht mitmachen, das hat mich verletzt. Nachdem meine Eltern mit der Lehrerin geredet hatten, konnte ich selbst entscheiden, wo ich mitmache und wo nicht. Ich habe zumindest alles versucht, selbst Weitsprung, was natürlich nicht funktionierte.

Bis in die 90er Jahre verweigerte ich alles, was auch nur annähernd mit Behinderung zu tun hatte. Ich kann nicht einmal genau erklären warum. Erst Ende der 90er Jahre schloss ich mich einer Sportgruppe aus behinderten und nichtbehinderten Menschen an, die sich einmal in der Woche zum Basketball trafen. Von alleine wäre ich dort wahrscheinlich auch nicht aufgetaucht. Erst die Bitte eines bekannten Physiotherapeuten, dort mitzumachen, um ein wenig als Motivation für andere zu wirken, brachte die Wendung. Heute ist diese Art "Abgrenzung" nicht mehr wichtig für mich.

Liebe und Sex

Ich war mit zehn, elf das erste Mal verliebt, hatte mit 15 meinen ersten Freund. Er verließ mich, weil er sich in jemanden anderen verliebt hatte. Ich habe das gerade noch mal in meinem Tagebuch nachgelesen: Ich hatte da keinen Gedanken zugelassen, dass er mich verlassen haben könnte, weil ich keine Beine mehr hatte. Sex hatte ich erst mit meinem Freund danach. Und natürlich hatte ich ein Problem damit, mich nackt zu zeigen. Wohl wie viele andere junge Frauen in dem Alter auch. Ich bestand darauf, das Zimmer dunkel zu machen. Das hat geholfen.

Leben ohne Beine: Silke Naun-Bates: Das Wesentlichste was ich lernte, war, dass es nur einen Menschen gibt, der für mein Glück verantwortlich ist - und das bin ich

Silke Naun-Bates: Das Wesentlichste was ich lernte, war, dass es nur einen Menschen gibt, der für mein Glück verantwortlich ist - und das bin ich

(Foto: privat)

Als junge Erwachsene erlebte ich, dass jemand unter Alkoholeinfluss zu meinem damaligen Freund sagte: 'Was willst du mit dem Krüppel?' Das tat mir in dem Moment unglaublich weh. Doch so etwas ist sehr selten geschehen. Auf jeden Fall habe ich es nur selten mitbekommen.

Zweifache Mutter

1989, mit Anfang 20 heiratete ich zum ersten Mal. Eigentlich wurde mir gesagt, dass ich besser keine Kinder bekommen solle: Die Ärzte fürchteten, dass das dünne Narbengewebe bei einer Schwangerschaft aufreißen würde. Doch es gab keinerlei Erfahrungen damit. Schließlich wurde meine Tochter 1990 in der 35 Schwangerschaftswoche in die Welt geholt. 1994 wurde ich Mutter eines Sohnes.

Ich führte ein ganz normales Leben: 1991 ging meine erste Ehe in die Brüche. Die zweite 1999. Ich war alleinerziehende Mutter - und Geliebte eines verheirateten Mannes. In dieser Zeit wurde ich immer wieder auf mich zurückgeworfen. Schließlich war dieser Mann oft nicht verfügbar. Es war eine lehrreiche Phase. Das Wesentlichste was ich lernte, war, dass es nur einen Menschen gibt, der für mein Glück verantwortlich ist - und das bin ich.

Das Leben ist lebenswert, gleichgültig was es ist

2007 lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Wir haben uns zum Prinzip gemacht, Dinge nicht persönlich zu nehmen, sondern sie als Ausdruck unserer momentanen Realität zu sehen. Und die ist veränderbar. Humor, über uns selbst zu lachen, hilft uns dabei sehr.

Ein zufriedener oder glücklicher Mensch kann einen anderen Menschen nicht verletzen. Es war wichtig, die Kraft in mir selbst zu finden und nicht draußen bei anderen Menschen. Ich begriff, dass das Leben lebenswert ist, gleichgültig was ist. Wir können lebenslang lernen, daraus Lehren ziehen und neue Wege einschlagen, wenn wir wollen.

So vielen Menschen fehlt etwas

Es gibt Menschen, die haben nach außen alles und springen trotzdem von der Brücke. Bei uns dreht sich viel um Leistung und Geld. Dennoch fehlt so vielen Menschen etwas. Es läuft eben nicht immer alles so, wie wir uns das vorstellen. Hilft uns dann das viele Geld oder unser Status? Sicher kann Geld manches erleichtern, doch wenn Krankheit und Tod auf der Schwelle stehen, würden wir das alles gegen Gesundheit und Leben tauschen.

Kinder wissen das noch besser als wir Erwachsene. Wenn ich mit ihnen zusammen bin, spüre ich diese unbändige Lebenskraft und Freude am Leben. Deshalb können Kinder auch so viel aushalten.

Doch wir alle können wachsen, an allen Dingen. So schrecklich sie auch sind. Alles hat einen Sinn. Und wenn wir das nicht mehr erkennen, dann verzweifeln wir."

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Silke Naun-Bates, 48, ist freiberufliche Redakteurin, bietet Seminare zur persönlichen Entwicklung an. Sie lebt mit ihrem Partner im Neckar-Odenwald-Kreis und auf der Kanareninsel El Hierro. Im vergangenen Jahr hat sie ihr erstes Buch geschrieben: "Mein Weg in die Freiheit" zu beziehen über Amazon oder direkt beim Sheema Medien Verlag. Videos zu, von und über sie sind hier veröffentlicht: mein-weg-in-die-freiheit.info.

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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