Leben mit dem Messie-Syndrom:"Es ist wie beim Alkohol"

Messie-Syndrom

Während das Chaos überhand nimmt, denken sie nur an eines: Aufräumen. Doch dazu kommt es nie.

(Foto: Maschinenjunge/CC-by-sa-3.0)

Sie horten und sammeln, umgeben sich mit Dingen, die andere wegwerfen - solange, bis ihnen alles über den Kopf wächst. Messies verbringen ein Leben im Durcheinander, das ihnen Angst macht und sie isoliert. Ein Gespräch über inneres und äußeres Chaos.

Von Violetta Simon

Schätzungen zufolge leiden etwa 2,5 Millionen Menschen in Deutschland unter dem Messie-Syndrom, die Dunkelziffer dürfte beträchtlich höher sein. Der Münchner Verein H-Team e.V. berät Betroffene mit Messie-Syndrom, um Kündigungen, Räumungsklagen und Obdachlosigkeit abzuwenden. Seit Oktober betreibt die Organisation das bundesweit erste Messie-Hilfe-Telefon, das schnell und anonym Rat und Unterstützung bietet. Peter Peschel ist seit 1990 Geschäftsführer des Vereins und hat in den vergangenen 23 Jahren Erfahrungen mit Messies und deren Leidenswegen gesammelt. Im Interview mit Süddeutsche.de erklärt der Pädagoge mögliche Ursachen für die Krankheit, wie man damit umgehen sollte und warum es mit Aufräumen nicht getan ist.

Süddeutsche.de: Herr Peschel, sind Sie ein ordentlicher Mensch?

Peter Peschel: Einigermaßen. Wenn ich abends den Schreibtisch verlasse, dann ist er nicht ganz leer. Man entwickelt durch die Betreuung von Menschen mit Messie-Syndrom jedoch ein starkes Bewusstsein, ich überprüfe mich immer wieder selbst, ob ich loslassen kann. Ich weiß inzwischen, dass kaum etwas von dem, was in einem Keller steht, je wieder benutzt wird - außer einem Fahrrad vielleicht. Selbst wenn ich mal etwas weggeworfen habe, was ich später doch gebraucht hätte, habe ich das nie bereut.

Definieren Sie bitte Messie-Syndrom.

Messies sind Menschen, die Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen und Prioritäten zu setzen. Sie bewahren für alle Fälle alles Mögliche auf, können nichts wegwerfen. Die Betroffenen haben Probleme, ihren Alltag zu organisieren, räumliche und zeitliche Strukturen zu schaffen. Sie verlieren sich in diesen Überlegungen und leiden unter dem Gefühl, nie fertig zu werden.

Sammeln Messies nur Material?

Es gibt Menschen, die Tiere sammeln - Katzen, Hunde und ähnliches. Oder Datenmessies, die ihre Rechner zumüllen, weil sie nichts löschen können. Sie denken bei jeder Mail, jeder SMS: Die kann ich vielleicht noch brauchen. Da werden immer neue externe Datenbanken angelegt, und irgendwann finden sie nichts mehr, sind völlig überfordert.

Ist die Unordnung nur äußerlich?

Das Chaos spielt sich im Inneren ab. Die meisten leiden an Depressionen und weisen zwanghafte Charakterzüge auf. Viele haben einen Hang zum Perfektionismus - der sich jedoch in nutzlose Aktionen ergießt. Da werden Listen gemacht, auf denen steht, wo sich was befindet. Selbst wenn alles vollgestopft ist und kein Außenstehender mehr durchblicken würde, können manche Messies genau sagen, was wo liegt. Leider wird das Messie-Syndrom nicht als Krankheit anerkannt. Das geht nur, wenn etwa eine Depression diagnostiziert wird.

Darf nicht jeder Mensch so unordentlich sein wie er will?

In seiner Wohnung kann jeder leben, wie er möchte - solange er andere nicht einschränkt oder gefährdet. Und keinen Leidenssdruck empfindet. Der beginnt in dem Moment, wenn er zu dem Schluss kommt: Ich kann niemanden in die Wohnung lassen, weil ich mich schäme.

Wo liegt die Grenze zwischen Unordnung und Messietum?

Offiziell gibt es keine. Subjektiv gesehen wird die Grenze überschritten, wenn eine Person darunter leidet. Objektiv, wenn es Probleme mit dem Umfeld gibt, etwa durch Geruchsbelästigung, Unordnung, eine unzugängliche Wohnung oder wenn Feuerschutzbestimmungen missachtet werden. Wenn mehr in die Wohnung reinkommt als raus, ist das immer suboptimal. Extrem wird es, wenn die Statik gefährdet ist oder wenn Zimmer nicht mehr zugänglich sind. Etwa, wenn die Betroffenen das WC nicht mehr benutzen können und öffentliche Toiletten aufsuchen - oder Eimer und Flaschen befüllen. Ich weiß von einer alten Dame, deren Haus derart vermüllt war, dass sie im Hühnerstall lebte.

Wie geraten Menschen in so eine Situation?

In Messie-Biografien findet sich immer ein einschneidendes Erlebnis. Meist sind das traumatische Ereignisse wie Trennung, Scheidung, Tod, Missbrauch. Oft kompensieren Betroffene auch Erziehungsmaßnahmen oder rächen sich unbewusst für Kränkungen. Etwa, wenn die Eltern einem als Kind ständig auf die Finger gehauen haben, wenn man mit "Schätzen" nach Hause kam, oder wenn sie einem Muscheln, Steine und Äste weggenommen haben.

Quer durch alle Schichten

Trifft es auch Menschen, die fest im Leben stehen, die zum Beispiel einen Beruf haben?

Wir haben Betroffene quer durch alle Altersstufen und Schichten, von jungen Familien bis zu altersdementen Senioren, vom Sachbearbeiter bis zum Manager. Jemand kann im Beruf eine gute Kraft sein, zu Hause herrscht trotzdem Chaos. Gerade, wenn zum Beispiel Perfektionismus gefragt ist, sind manche Menschen durchaus in der Lage, ihre berufliche Aufgabe zu erfüllen.

Leben mit dem Messie-Syndrom: Peter Peschel ist seit 1990 Geschäftsführer des H-Team und hat in den vergangenen 23 Jahren Erfahrungen mit Messies und deren Leiden gesammelt.

Peter Peschel ist seit 1990 Geschäftsführer des H-Team und hat in den vergangenen 23 Jahren Erfahrungen mit Messies und deren Leiden gesammelt.

(Foto: oh)

Welche Vermeidungsstrategien entwickeln Betroffene, um nicht aufzufliegen?

Je näher man der Wohnung kommt, desto einfacher ist die Situation zu erkennen. Die Personen lassen niemanden rein, oft sind die Fenster mit Vorhängen verhangen, auf dem Balkon oder im Treppenhaus stapelt sich Sperrmüll. Wie auch bei anderen sozial problematischen Verhaltensmustern erweisen sich die Betroffenen als äußerst kreativ, wenn es darum geht, sich erfolgreich zu verbarrikadieren. Sie bitten also unter einem Vorwand darum, sich bei jemand anderem oder in einem Café zu treffen. Wenn der Vermieter oder ein Handwerker vor der Tür steht, öffnen sie nicht und tun so, als wäre keiner zuhause. Früher oder später kommt es aber auf den Tisch, zum Beispiel, wenn sich eine Beziehung anbahnt.

Kann man mit einem Messie eine Beziehung führen?

Sicherlich ist es nicht ganz einfach, das hängt immer auch vom Partner ab und ob er bereit ist, damit zu leben. Eine Möglichkeit wären, je nach Ausmaß des Messietums, getrennte Reviere. Weitaus schwieriger ist es mit Kindern: Oft werden ihre Zimmer zweckentfremdet und so vollgestellt, dass sie sie nicht nutzen können. Sie finden ihre Kleider nicht, können auf ihre Spielsachen nicht zugreifen. Problematisch wird es vor allem, wenn der Kontakt zu Gleichaltrigen fehlt. Wenn sie Freunde einladen wollen und die Eltern das aus Scham vor Fremden ablehnen. Unter solchen Umständen aufzuwachsen ist traumatisch, das kann sich auf die Schulleistung auswirken und durch Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsdefizite bemerkbar machen. Hier muss das Jugendamt einwirken und Hilfe bieten.

Wenden sich auch Angehörige an Sie?

Ja, genauso viele wie direkt Betroffene. Das kann die Tochter sein, die sich Sorgen um die Mutter macht, weil der Vater das ganze Haus mit seinem Müll vereinnahmt und gewalttätig wird, wenn ihn jemad kritisiert. Oder die Ehefrau, die eine räumliche Trennung will: Sie wartet seit Monaten darauf, dass der Partner seine Sachen aus der gemeinsamen Wohnung abholt - die eigentlich 90 Quadratmeter hat, aber so zugestellt ist, dass nur etwa zehn davon übrig sind.

Wie kann man jemandem, dem man nahesteht, helfen?

Gerade für Nahestehende ist es nicht damit getan, zu sagen: Jetzt räum ich hier mal auf. Hilfe anzubieten, ist naheliegend, aber meist erfolglos. Über jedes Stück zu diskutieren, ob es weg kann oder nicht, bringt niemanden weiter. Angehörige stoßen da sehr schnell an Grenzen und spüren Frustration, wenn der Betroffene nicht so mitmacht, wie sie es sich vorstellen. Irgendwann steht nurmehr die Wohnung und das Aufräumen im Mittelpunkt - und nicht mehr der Wunsch, zueinander zu stehen und den Betroffenen seelisch zu begleiten. Viel wichtiger ist es, die Person zu überzeugen, sich professionelle Hilfe zu holen, also sich in Therapie zu begeben oder eine Organisation aufzusuchen. Auch für Angehörige gibt es Selbsthilfegruppen.

Gibt es eine Chance auf Heilung?

Mithilfe einer Verhaltenstherapie können Betroffene ihre inneren Zwänge umwandeln und ihr Handeln verändern. Grundsätzlich denke ich, dass sich jeder ändern kann. Das heißt jedoch nicht, dass man geheilt ist, es ist wie beim Alkohol. Wir kennen Messies, die sagen: "Ich bin trockener Messie." Sie bleiben gefährdet - auch wenn die Wohnung sauber aussieht.

Das Messie-Hilfe-Telefon ist dienstags von 9 bis 12 und donnerstags von 15 bis 18 Uhr unter der Nummer 089/55064890 zu erreichen. Um das Angebot aufrechtzuerhalten bzw. auszubauen, ist der H-Team e.V. auf Spenden angewiesen. Spendenkonto: H-TEAM e.V. Raiffeisenbank München-Süd, Konto-Nummer 703478, BLZ 70169466.

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