Süddeutsche Zeitung

Leben in der Krise:Das neue Wir-Gefühl

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Macht uns die Krise zu besseren Menschen? Ein Forscher stellt fest: Wir fahren unsere Ellenbogen ein und gehen Hand in Hand durch die harte Zeit.

Wohlgefühl statt Streben nach Wohlstand: Im Leben nach der Wirtschaftskrise kommen für die Deutschen Familie und Freunde zuallererst - Geld und Reichtum stehen nicht mehr obenan.

"Aus der Gesellschaft der Ichlinge wird eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit", sagte der Zukunftsforscher Prof. Horst Opaschowski am Montag in Hamburg. Die "Wiederentdeckung der Familie, die Wiederentdeckung der Freunde, das Comeback der guten Nachbarn" hätten dann Vorrang.

Dieses Fazit zieht der Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen aus seiner jüngsten Studie "Vision Deutschland. Neue Wege in die Welt von morgen".

Die weltweite Krise sieht Opaschowski als eine "Wendezeit", die er gar mit der 68er-Bewegung vergleicht. "Damals war die gleiche Aufbruchstimmung wie jetzt." Deutschland stehe am Beginn einer Periode der Erneuerung: "Zukunftsvisionen werden nicht länger nur mit Produktvisionen verwechselt. Und mehr mit unternehmerischem Mut als mit Staatsgläubigkeit wollen die Bundesbürger Wege in die Zukunft beschreiten."

Die Akteure der Zukunft

Jetzt beginne eine "zweite Wiederaufbauleistung", vergleicht Opaschowski mit Blick auf die historische Wiederaufbauleistung der Nachkriegsgeneration. Denn gerade die junge Generation - darunter fasst der Forscher die 14- bis 34-Jährigen - sehe sich als "Akteur der Zukunft" und wolle sich nicht nur auf Staat und Politik verlassen.

"Selbstvertrauen ersetzt im Vergleich zur übrigen Bevölkerung das traditionelle Gottvertrauen, und weniger Unsicherheitsgefühle verdrängen die Zukunftsangst." Die junge Generation vertraue auf die eigene Leistung und verspreche sich davon Wachstum und Wohlstand für das Land.

Nach der Krise werde die Gesellschaft in Deutschland eine andere sein, ist der Forscher überzeugt - "eine selbstbewusstere und solidarischere Gesellschaft mit starken Bürgern". Fast poetisch wird Opaschowski, wenn er Deutschland als "Land der Hoffnung und des Fortschritts" beschreibt: "Heinrich Heines geflügeltes Wort 'Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht' erfährt eine positive Wende."

Allerdings müssten die Weichen für die Welt von morgen schon heute gestellt werden, zitiert der Wissenschaftler aus der repräsentativen Zukunftsstudie - die pünktlich zum 60-jährigen Bestehen der Bundesrepublik und dem 30-jährigen Bestehen der Stiftung erscheint.

Tausche Perspektive gegen Wohlstand

"Politik und Wirtschaft sollen jetzt handeln." Und sich eben nicht nur mit den Problemen der Gegenwart beschäftigen. Für gute Perspektiven würden die Deutschen laut Opaschowski auch Wohlstandsverluste hinnehmen. "Man ist bereit zurückzustecken, wenn die Zukunftsfähigkeit gesichert ist." Dabei gehe es gerade nicht um technische Spielereien wie Haushaltsroboter oder 3-D-Fernsehen - von solchen "Erfindungen für den Augenblick" hielten die Bürger nicht viel -, sondern um nachhaltige Innovationen.

"Das Wohlbefinden der Menschen ist wieder genauso wichtig wie das Wohlergehen der Wirtschaft", betont Opaschowski. So wünschen sich 92 Prozent der 2000 Befragten eine kostenlose Kinder-, Familien- und Altenbetreuung, 96 Prozent erhoffen sich Therapien gegen schwere Krankheiten von Alzheimer bis Aids ("Gesundheit wird zum Megamarkt der Zukunft"), und nach Ansicht von 87 Prozent sollten Wind- und Solarenergienutzung vorrangig gefördert werden.

"Die Deutschen setzen ihre ganze Hoffnung auf alternative Energien." Zur Bekämpfung der Altersarmut wollen 87 Prozent der Bevölkerung eine Grundrente für alle. Und trotz aller Debatten über den Schutz der Privatsphäre: 31 Prozent der Befragten finden Überwachungskameras zur eigenen Sicherheit wichtig.

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