Süddeutsche Zeitung

Lawinen - Prävention und Rettung:Die Stille nach dem Knall

Es knallt. Ohrenbetäubend laut. Silke sieht, wie sich Risse über den Hang ziehen. Sie schreit. Dann versinkt sie.

Birgit Lutz-Temsch

Es knallt. Laut. Silke sieht, wie sich Risse über den Hang ziehen. Sie schreit. Dann versinkt sie. Im Bruchteil einer Sekunde. Silke und ihr Mann haben ein Schneebrett losgetreten, am 4. März 2004, am Almenhorn in Osttirol. "Ich hatte überhaupt keine Zeit, zu reagieren", sagt die heute 35-Jährige, "es ging rasend schnell."

Wenn ein Schneebrett abgeht, dann sieht es meist nicht so spektakulär aus wie auf Aufnahmen von Katastrophen- oder Staublawinen. Vielmehr rutscht der Schnee in Form von Schuhkarton großen Blöcken ab. Der Hang, in dem Silke rutscht, war hartgefroren. Die Blöcke sind so groß wie Kühlschränke. Und werden immer schneller. "Ich wusste, dass mein Mann auch in der Lawine ist. Und dass hier niemand sonst unterwegs ist. Ich hoffte, dass ich nicht von der Lawine verschüttet werde. Aber die Mächtigkeit war mir klar." Die Anrisskante der Lawine ist 80 Meter breit.

Silke gelingt es, ihre Stöcke loszuwerden, aber ihre Ski ziehen sie wie ein Anker unter den Schnee. "Es ging in rasender Geschwindigkeit bergab. Es heißt, man soll Schwimmbewegungen machen, aber das war hoffnungslos. Ich bekam Schnee in den Mund. Den konnte ich noch ausspucken." Sie wird hin und her gestoßen wie ein Spielball, fühlt sich völlig machtlos. Sie merkt, dass sie noch einmal ans Licht kommt, doch die Ski ziehen sie wieder nach unten. Sie versucht, ihre Hände vor das Gesicht zu bekommen, aber schafft es nicht.

Etwa 400 Meter weit wird Silke zu Tal geschleudert. "Dann wurde die Lawine langsamer und kam zum Stehen. Ich spürte, dass es noch weitere Schneemassen über mich schüttete. Es entstand ein unheimlicher Druck." Dann ist es still. Silke kann nicht einmal den kleinen Finger bewegen. Es gelingt ihr nicht, mit der Nase eine kleine Atemhöhle frei zu drücken.

"Ich bin ganz ruhig geworden", sagt sie. "Dann kam mir der Gedanke, dass ich eigentlich nicht sterben mag, dass es viel zu früh ist, dass ich noch so viel vorhabe. Und dann habe ich gemerkt, dass der Sauerstoff immer weniger wird. Das war ein schlimmer Augenblick. Ich schnappte panikartig nach Luft. Ich wusste, dass dieser Moment kommt. Aber bis man endlich bewusstlos ist, ist es schrecklich."

Silke wacht in der Intensivstation wieder auf. Sie hat Glück: Ihr Mann war nicht verschüttet. Das Paar ist hervorragend ausgebildet, leitet Jugendkurse beim Alpenverein. Beide haben das Verhalten nach einer Lawine hunderte Male geübt. Er alarmiert zuerst die Rettung, rennt dann mit seinem Suchgerät über den Hang, bis er ein Signal empfängt und ihre Position exakt bestimmen kann. Doch mit der Sonde kann er sie nicht orten - er vermutet, sie sei zu tief verschüttet.

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18 Minuten Zeit

Er beginnt zu graben, schnell, weil er sich sicher ist, hier muss sie laut Piepsgerät sein. Und er weiß: Das dauert alles schon viel zu lange. 18 Minuten ist die Überlebenszeit in einer Lawine, sagen die Statistiken. Er weiß, dass die bald vorbei sind. Er schaufelt, zum Glück hat er eine stabile Metallschaufel, der Lawinenschnee ist wie betoniert, und endlich stößt er auf den Rucksack seiner Frau, sie liegt auf dem Bauch, er hat Schwierigkeiten, ihren Kopf freizubekommen, weil er sie nicht verletzen will. Nach etwa 20 Minuten hat er es geschafft. Silke atmet.

War es falsch, diesen Hang hochzugehen? Silke fällt es schwer, darüber zu urteilen. "Mein Mann und ich sind sehr vorsichtige Tourengeher. An dem Tag war Lawinenstufe 2 ausgegeben. Es war die gängige Meinung, dass man windgepresste Schneeplatten, wie wir sie vorgefunden haben, befahren kann. Heute würde ich so einen Hang nicht mehr betreten."

Silke und ihr Mann haben die Lawine dank ihrer Erfahrung überlebt. Der Ablauf der Rettung, wie Marc sie startete, ist wie aus dem Lehrbuch; der Verlauf seiner Suche entspricht den Statistiken. Die besagen, dass gerade die Feinsuche am längsten dauert - besonders, wenn die Opfer tief verschüttet sind. Man muss aber genau wissen, wo ein Opfer liegt, denn auf Verdacht graben dauert zu lange.

Hier setzt das von der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt geförderte Forschungsprojekt Galileo SAR Lawine an, an dem unter anderem auch das Fraunhofer-Institut in Prien und die Bergwacht Berchtesgaden beteiligt sind. Die Projektgruppe arbeitet an einem satellitengestützten Suchsystem, das so exakt ist, dass die Sondierungsphase künftig entfallen würde.

"Die Basis sind weiterhin die gängigen Suchgeräte", erklärt der technische Projektleiter Gerd Waizmann von der proTime GmbH, "aber wir beziehen über das Galileo-Satellitennavigationssystem auch den Standort des Suchenden mit ein".

Das funktioniert so: Der Suchende läuft mit dem Gerät über den Lawinenhang, empfängt das Signal des Verschütteten. Das System setzt automatisch Messpunkte von verschiedenen Standorten des Suchenden - und kann dann in Relation zum gesendeten Signal exakt anzeigen, wo das Gerät liegt. "In ersten Tests ist uns das bis auf elf Zentimeter genau gelungen", sagt Waizmann. Schon in der nächsten Wintersaison kann die Bergwacht mit den Geräten ausgerüstet werden.

Doch bei Lawinen kommen die professionellen Retter meist zu spät. Deshalb ist das nächste Projektziel, die gängigen Suchgeräte mit dem Zusatz der Satellitennavigation auszustatten, damit die Tourengeher selbst verschüttete Kameraden schneller finden können. "Wir optimieren das Gerät größen- und kostenmäßig so, dass das möglich wird", sagt Waizmann.

Hätte Marc ein solches Gerät gehabt, er hätte seine Frau wesentlich schneller ausgraben können. Silke ging zwei Monate nach dem Unglück wieder eine Skitour. In ihren Kursen erzählt sie den Jugendlichen von ihrem Erlebnis. Es ist ihr wichtig, dass Skitourengehen nicht als spektakulär gefährlich verschrien wird.

"Es soll sich jeder frei fühlen, eigenverantwortlich diesen Sport zu machen", sagt sie. "Aber jeder muss wissen, wie viel Risiko er bereit ist, einzugehen. Denn in dem Moment, bevor man bewusstlos wird, fragt man sich, warum man das bloß gemacht hat. Und das weiß man dann nicht."

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SZ vom 16.02.2009/bilu/mmk
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