Lawinen-Opfer:Begraben im Weiß

Snowboard-Profi Wolle Nyvelt hört ein Krachen. Der ganze Hang setzt sich in Bewegung. Der Boarder wird in einer Wolke aus Schnee ins Tal gerissen. Dann ist es dunkel.

Stephan Bernhard

Wolle Nyvelt lebt seit 15 Jahren für das Snowboarden. Zuerst war es nur seine Leidenschaft, dann wurde er Profi und begann Geld auf dem Board zu verdienen. Inzwischen ist er ganz oben angekommen, erst Anfang Februar wurde ihm der Titel "Rider of the Year" verliehen - der Oscar des Snowboardsports. Er kennt die Berge und ihre Gefahren. Er weiß, dass man nie den Respekt vor ihnen verlieren darf. Doch einmal machte er einen Fehler.

Wolle Nyvelt; billabong.com

Wolle Nyvelt hat Lawinen nie gefürchtet. Bis er eines Tages vom Schnee begraben wurde.

(Foto: Foto: billabong.com)

"Wuuummm", hört Wolle und weiß genau, was das bedeutet: Dieses Geräusch entsteht, wenn die Schneedecke kollabiert und dabei Luft aus ihr entweicht. Der Blick nach oben gibt ihm Gewissheit. "Wie ein Spinnennetz zogen sich Risse durch den Schnee", erinnert sich Wolle: "Dann setzte sich schlagartig der ganze Hang in Bewegung."

Bis zu diesem Zeitpunkt schien an diesem Tag alles perfekt zu sein: Strahlender Sonnenschein, lockerer Pulverschnee und eigentlich sichere Bedingungen für Abfahrten im Gelände weitab der Skigebiete. "Es hatte schon seit zwei Wochen nicht mehr geschneit", erzählt der 30-jährige Österreicher. "Die Schneedecke war stabil und die Lawinengefahr äußerst gering."

Ideale Voraussetzungen, um zusammen mit seinem Freund Steve Gruber, ebenfalls Snowboardprofi, und einem Kameramann im Zillertal Filmmaterial für ein neues Video zu drehen.

Eine Abfahrt ist schon im Kasten, als sich die Snowboarder auf den Weg zu einer steilen Rinne machen. "Oben angekommen, sah ich, dass der Wind viel Schnee in den oberen Teil der Rinne geblasen hatte." Wolle traut der Schneedecke nicht und steigt über Felsen am Rand der Rinne 20 Meter ab.

Hier scheint der Wind keinen Schnee verfrachtet zu haben und die Abfahrt sicher. Dann packt ihn die Vorfreude. "Die Abfahrt sah unglaublich gut aus. Toller Schnee, steiles Gelände - ich konnte es kaum erwarten loszulegen. In Gedanken stellte ich mir schon vor, wo ich meinen ersten Turn in den Schnee setze und stieg wieder ein paar Meter auf - um ein bisschen mehr Geschwindigkeit zu bekommen. Ich war einfach übermotiviert", meint Wolle heute rückblickend.

Auf der nächsten Seite: Lebendig begraben unter Schnee.

Begraben im Weiß

Lebendig begraben

Wolle Nyvelt; billabong.com

Ein Leben für das Board: Wolle Nyvelt steht seit 15 Jahren auf dem Brett.

(Foto: Foto: billabong.com)

Dann passiert es. Gerade als er sein Board anschnallt, hört Wolle das "Wumm-Geräusch", sieht die Risse im Schnee und die vor Schreck aufgerissenen Augen seines Freundes außerhalb der Gefahrenzone. "Als die Schneedecke in große Schollen zerbrach und sich langsam in Bewegung setzte, versuchte ich noch, die rettenden Felsen neben der Rinne zu erreichen. Etwa anderthalb Meter fehlten noch bis zum rettenden Ufer, da zog es mir den Boden unter den Füßen weg und ich stürzte plötzlich rasend schnell zu Tal."

Der Snowboarder wird von den Schneemassen verschlungen, wie von einem reißenden Wildbach. Er hat keine Orientierung mehr, sieht nur noch einen tobenden Schneesturm vor seinen Augen und versucht verzweifelt durch Schwimmbewegungen irgendwie an der Oberfläche zu bleiben, während er über kleine Felsabbrüche in die Tiefe stürzt.

"Immer wieder hatte ich den Mund voller Schnee und musste mit den Fingern regelrecht graben, um wieder Luft zu bekommen." Dann spürt er, wie die Lawine langsamer wird und schließlich zum Stillstand kommt. "Alles um mich herum war weiß und hell, ich musste also knapp unter der Oberfläche sein", erzählt Wolle. "Glück gehabt - dachte ich. Leider hatte ich mich zu früh gefreut."

Von oben rutscht weiterer Schnee nach und plötzlich wird die Welt für Wolle schwarz. Kein Licht dringt mehr zu ihm und kein Geräusch - es ist totenstill. "Alles vorbei, das war's", beschreibt Wolle seine Gedanken in diesem Moment. Er fühlt sich wie einbetoniert. Erfolglos versucht er seine Finger zu bewegen, aber jede Kraftanstrengung kostet unendlich viel Energie und Sauerstoff.

Während Wolle der Ohnmacht immer näher kommt, fährt Steve zu dem Lawinenkegel ab und sucht mit seinem LVS-Gerät nach Wolle. Irgendwo unter dem Schnee sendet der Lawinenpiepser seines Freundes ein Signal, das ihn zu ihm führen wird. Steve folgt der elektronischen Spur, bis er direkt über Wolle ist, greift zu seiner Lawinensonde und stößt die dünne Metallstange in den Schnee. Am Widerstand spürt er dabei genau, ob die Spitze auf einen Stein trifft, einen Menschen berührt oder im Schnee stecken bleibt.

Wolle kann nicht abschätzen, wie lange er verschüttet ist. "Ich versuchte ruhig zu bleiben und konzentrierte mich auf jeden Atemzug. Irgendwie habe ich mich von der Situation abgeschottet und mich in einen kleinen Raum in meinem Kopf zurückgezogen." Aber gerade als er merkt, dass er gleich das Bewusstsein verlieren wird, spürt er eine Berührung an seinem Arm. Wolle ist sofort klar, was das bedeutet: "Eine Sonde!" Einen kurzen Moment dauert es noch, bis sich sein Freund durch den Schnee gegraben hat und Steve ihn aus dem Loch zerrt - völlig unverletzt.

Zwei Tage später sieht sich Wolle nochmals die Abrisskante und den Lawinenkegel an. "Ich hatte die Gefahr total unterschätzt", meint er heute und: "Ich habe an diesem Tag sehr viel gelernt." Weil die Snowboarder mit Sonde, Schaufel und LVS-Gerät ausgerüstet waren und auch damit umgehen konnten, hat Wolle an diesem Februartag 2002 nur Mütze und Brille verloren und nicht auch sein Leben.

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