Laufsport:Ultra-Rennen für die Seele

Joggerin vor der EZB in Frankfurt

Joggen - für viele mehr als nur Sport.

(Foto: dpa)

Millionen Menschen gehen regelmäßig laufen. Viele nur, um fit zu bleiben. Andere erheben den Sport zur Lebensphilosophie - bis die Fußnägel abfallen.

Von Jochen Temsch

Nachts im Himalaja. In Sandakphu, einem Bergdorf in Westbengalen, brennt noch Licht. In einer Hütte sitzen drei Dutzend Aktivurlauber zusammen, in Daunenjacken gepackt, die Blicke müde, wohlig zerschlagen - die Teilnehmer des "Himalayan 100 Mile Stage Race". In fünf Tagen wollen sie 160 Kilometer weit über die Berge rennen. 40 Kilometer davon haben sie schon geschafft. In der Kälte draußen glimmen vier der fünf höchsten Bergmassive der Welt im Mondschein: Everest, Kangchendzönga, Lhotse and Makalu. Drinnen kreisen die Gespräche um persönliche Höhepunkte.

Es geht um Ultra-Rennen, Strecken, die länger sind als die klassische Marathon-Distanz von 42,195 Kilometern. Und wie beim Quartett-Spiel: Einer hat immer etwas noch Krasseres erlebt und übertrumpft die anderen mit seiner Erzählung. 90 Kilometer in Südafrika. 15 000 Höhenmeter in den Alpen. 250 Kilometer durch die Sahara - mit Sandsturm. 450 Kilometer am Yukon - am Stück, im Winter, bei minus 50 Grad. "Einmal dachte ich, woher kommen denn auf einmal die Muschelstückchen in meinen Socken?", sagt Jeff, ein Fitnesstrainer aus Washington und Autor des Buches "Meine ersten 100 Marathons". "Das waren abgefallene Fußnägel." Darauf Richard, ein australischer Physiotherapeut: "Kenne ich. Deshalb wollte ich mir die Dinger schon mal herausoperieren lassen. Der Arzt weigerte sich."

Weil es geht

Spätestens hier ist für die meisten Menschen klar: Die haben nicht mehr alle Tassen im Schrank! Aber einerseits ist es wie mit dem Everest. Als George Mallory gefragt wurde, warum er diesen Berg unbedingt besteigen will, antworte er: "Weil er da ist." Warum also sollte man um die Bergen herumrennen? Weil es geht. Andererseits gehört zu den herausragenden Fähigkeiten der Ultraläufer nicht gerade, die eigenen Herausforderungen kleinzureden.

In Wahrheit spielen abfallende Zehennägel eine untergeordnete Rolle bei der Mega-Anstrengung. Man muss nicht einmal ein übermenschlicher Sportler dafür sein. Viel schwieriger ist es beispielsweise, einen Marathon unter 3:30 Stunden zu schaffen, als 100 Kilometer ohne Zeitlimit durch die Wildnis zu schlappen. Durchhalten, Dranbleiben, Dranglauben hilft nur auf der überlangen, aber eben auch langsam zu meisternden Distanz. Der wichtigste Tipp des indischen Arztes, der das Himalaja-Rennen begleitet, lautet: "Nur nicht gedanklich aussteigen!"

Auch in der Hütte dauert es nicht lange, und das Gespräch dreht sich von den Füßen auf den Kopf. Plötzlich geht es ums Mentale, Seelische - je nachdem, wie spirituell man das ausdrücken möchte.

Wollen, Können und Wissen

Fiona, eine Bankangestellte aus London, sagt, sie wolle den Tod ihrer Mutter verarbeiten. "Beim Laufen bin ich allein mit meinen Gedanken." Richard, der Physiotherapeut, will seine Freundin vergessen, die er betrogen und verlassen hat. "Ich habe es schon mit Sex versucht, mit Saufen und mit Arbeit. Jetzt versuche ich es mit Laufen." Und Jacob, ein Sportartikelhändler aus Dänemark, zeigt seine Tätowierung, ein Zitat von T.S. Eliot: "Nur diejenigen, die riskieren, zu weit zu gehen, können herausfinden, wie weit sie gehen können." Große Zustimmung. Nur von einem nicht. Aber Gabriel, ein spanischer Sockenverkäufer, spricht sowieso nie, weil er kein Englisch versteht.

In dem Standardwerk der Sportwissenschaft "Mentaltraining im Langstreckenlauf" ist von drei Komponenten die Rede: Wollen, Können und Wissen. Nur eine Komponente davon, das Können, ist auf die Fitness bezogen, die relativ simpel mit vielen Trainingskilometern aufzupeppen ist. Der Rest ist Kopfsache. 160 Kilometer durch den Himalaja rennen - das muss man wollen. Man sollte auch wissen, wie man sich vorbereitet, welche Ausrüstung sinnvoll ist, wie man sich ernährt. Dann relativiert sich das Wort "extrem". Jemand, der schon durch die Sahara gerannt ist, empfindet den Lauf nach Sandakphu als harmlos. Wer schon nach ein paar Treppenstufen erhöhten Puls bekommt, hält bereits fünf Kilometer Joggen für Fanatismus.

Millionen Deutsche laufen für den Kopf

Mentale Auswirkungen hat das Laufen auf jedem Leistungsstand. Etwa 20 Millionen Deutsche schnüren regelmäßig ihre Laufschuhe - nicht nur, um abzunehmen. Sie wollen auch klare Gedanken fassen, abschalten, sich etwas beweisen - alles für den Kopf. Wozu das führt, zeigt sich nicht nur in den Höhen des Himalaja.

Man muss sich nur mal in den Zielbereich eines Marathons stellen. Und zwar nicht zwei oder drei Stunden nach dem Startschuss, wenn die Spitzen-Athleten scheinbar locker ankommen, sondern nach fünf, sechs Stunden, wenn sich die Halbtrainierten, Pummeligen, Durchschnittlichen über die Ziellinie schleppen. Da erfüllen sich Schicksale: Menschen weinen und umarmen einander, lassen sich ihre Kinder zur Begleitung auf den letzten Metern ihres Triumphs auf die Tartanbahn reichen.

Der Kampf gegen sich selbst

Solche Dramen gäbe es nicht, wäre der Marathon nicht ein solch hochgestecktes Ziel, der "Everest des kleinen Mannes", wie er manchmal genannt wird. Ein Everest, der nur mit Hilfe eines Sherpas erklommen werden kann, der Selbstüberwindung heißt. "Du bist stärker als du!", lautet ein typischer Motivationsspruch, den Angehörige von Teilnehmern bei Wettkämpfen auf Pappschildern hochhalten. Es ist der mentale Nukleus des Laufens. Entscheidend ist bei diesem Sport keine Teamleistung wie beim Fußball, keine Technik wie in der Formel 1, sondern allein die Fähigkeit des Einzelnen, Kraft und Ausdauer für sein angestrebtes Ziel zu erlangen. Es ist kein Kampf gegen eine andere Mannschaft. Es ist ein Kampf des Einzelnen gegen sich selbst.

Involviert sind aber auch andere, die Familie, Freunde, das ganze nähere soziale Umfeld. Viele Läufer werden merkwürdig. Sie hören mit dem Rauchen auf, bestellen in der Kneipe nur noch alkoholfreies Bier und gehen als Erste nach Hause, damit sie früh genug aus dem Bett kommen für ihre 15-Kilometer-Trainingsrunde vor der Arbeit. Sie tragen klobige Uhren am Handgelenk, mit denen sie GPS-Satelliten anpeilen. Sie kleben ihre Brustwarzen ab, reden von langkettigen Kohlehydraten, Merinowolle am Körper und Gelkissen in den Schuhen. Und manche, je nachdem, wie sehr sie sich in die Lauferei versenken, machen aus ihren veränderten Lebensgewohnheiten eine Lebensphilosophie.

Lebensretter Marathon

"Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du ein neues Leben willst, lauf Marathon", lautet ein Spruch des tschechischen Langstrecklers Emil Zátopek. Ende der Neunzigerjahre, kurz vor seiner Ernennung zum Außenminister, schrieb Joschka Fischer über seine Marathon-Metamorphosen, in denen er 30 Kilogramm abnahm. Sein Buch "Mein langer Lauf zu mir selbst" gilt immer noch als eine der längsten Glückskeks-Botschaften der Laufszene.

Dann wandelte sich der ehemals drogenabhängige Triathlet Andreas Niedrig noch einmal öffentlich "Vom Junkie zum Ironman". In den Besprechungen dieses Buches hieß es immer wieder, hier habe einer seine Drogensucht gegen Sportsucht eingetauscht. Niedrig wehrte sich gegen dieses Klischee und betonte, er habe keine neue Sucht, sondern eine Sehnsucht nach den positiven, gesundheitlichen Auswirkungen des Laufens entwickelt: weniger Körperfett, geringerer Blutdruck, kräftigeres Herz, stärkeres Immunsystem, verbesserte Libido, weniger Stress - und das tolle Gefühl unter der Dusche danach.

Es sind ganz irdische, unesoterische Effekte, die für Triathleten genauso bemerkbar sind wie für Feierabendjogger. Die Zeitschriften sind voll mit Geschichten über Menschen, die den Zigaretten, dem Übergewicht, der Diabetes, dem Rheuma oder der Depression davonlaufen. Trainingspläne strukturieren dabei die Wochen - und geben Halt im Alltag. Ehemalige Spitzensportler oder Ärzte, die solche Pläne austüfteln und Fachbücher schreiben, werden nicht ohne Grund "Laufgurus" genannt.

Laufen als Meditation

Lebenslauf - das ist vielleicht die stärkste, aber nur eine von vielen Metaphern rund ums Laufen. Ein Ziel anpeilen, Hindernisse überwinden, einen Berg hinaufrennen, neue Perspektiven entdecken - es ist ein Wörter-Setzkasten, der im Manager-Seminar genauso ausgepackt wird wie begleitend in der Krebs-Therapie. Hier docken Motivationstrainer, Geschäftemacher und Sektierer an. Im Himalaja läuft ein Seminarredner aus Deutschland mit. Er ist eigens mit einem Fotografen angereist, der ihn für seine Multimedia-Vorträge in Szene setzt. Es gibt Autoren, die Laufen mit Beten vergleichen oder über ihren "Marathon zu Gott" Zeugnis ablegen. Und dann gibt es noch die modische Variante der Spiritualität beim Laufen: die buddhistische.

Der tibetische Lama und Marathonläufer Sakyong Mipham vergleicht in seinem Buch "Running Buddha" das Laufen mit der Meditation. Er findet zahlreiche Parallelen, dann auch ein hübsches Bild für den größten Gegensatz: Wenn die wild durcheinandergehenden Gedanken eines Läufers Pferde wären, dann würde die Meditation die Tiere zähmen - das Laufen sie jedoch nur müde machen. Über so etwas kann man dann prima nachdenken auf ein paar der 160 Kilometer im Himalaja.

James, ein englischer Sportlehrer, schaltet lieber ab. Am Morgen nach der Nacht in Sandakphu fragt ihn der begleitende Arzt: "Wie fühlst du dich?" Darauf James gereizt: "Was heißt da fühlen, Mann? Ich renne!" Er wird Zweiter. Auf Platz eins landet Gabriel - der Sockenverkäufer, der die ganze Zeit überhaupt nicht geredet hat.

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