Kuscheltherapie:Was uns berührt

Kuscheltherapeutin

Augen schließen, Herz öffnen: Rebekka Mikkola (unten) mit einer Klientin bei der Tiefenentspannung.

(Foto: Nordic Cuddle)

Kaum Gespräche, kaum Berührungen: Millionen Menschen leiden unter Einsamkeit. Über den Alltag von Londons erster Kuscheltherapeutin und die Frage, wie Menschen eigentlich miteinander umgehen sollten.

Von Marten Rolff

Auf den ersten Blick wirken sie wie ein Liebespaar: eine junge Frau und ein junger Mann auf einer Bank vor einem Café an der Themse in London. Rebekka, 24, und Ross, 30, haben die Köpfe aneinandergelehnt und die Augen geschlossen. Wer genau hinsieht, hat den Eindruck, dass er bei ihr Schutz sucht. Ihr linker Arm umfasst seine schmalen Schultern, während sie ihm mit der Hand übers Haar streicht, als wollte sie auf dieser lauten Straße, in dieser hektischen Stadt, einen Kokon für seinen Kopf schaffen. Ihre rechte Hand hält seine linke, alle zehn Finger ineinander verschränkt, wobei ihre Fingerspitzen seinen Handrücken massieren. Beide strahlen große Vertrautheit aus, die allerdings strikt auf 60 Minuten begrenzt ist. Dann wird Ross sich bedanken und verabschieden. Umgerechnet 50 Euro zahlt er für so ein Treffen.

Die Szene ist Teil einer Sitzung bei Rebekka Mikkola, Londons erster Kuscheltherapeutin. "Nordic Cuddle" heißt ihr Start-up, dessen Name auf Mikkolas finnische Herkunft anspielt. Mikkolas Geschäftsidee ist ernst gemeint, noch ernster ist ihr Hintergrund: Im April erregte die britische Regierung Aufmerksamkeit, als sie die weltweit erste Ministerin für Einsamkeit berief. Tracey Crouch soll offiziell das bekämpfen, was Premierministerin Theresa May "die traurige Realität des modernen Lebens für zu viele Menschen" nannte: Neun Millionen Briten, das ergab eine Studie, fühlen sich sehr oft oder immer einsam, haben keinen zum Reden und erfahren selten bis nie auch nur eine Berührung.

London sei eine Stadt, "die den Menschen zu oft den Respekt verweigert", findet Rebekka Mikkola. "Die Menschen leben hier aneinander vorbei", sagt die Therapeutin. Das verstärke sich auch dadurch, dass immer mehr von ihnen in digitalen Räumen unterwegs seien. Grundsätzlich müsse das nicht schlecht sein. "Nur halten die Möglichkeiten, sich in den sozialen Netzwerken darzustellen, dem Realitätscheck oft nicht stand. Der Erfolgsdruck ist heute absurd." Und am realen Leben kommt derzeit ja noch niemand vorbei.

Zuwendungsmangel lautet also die beklemmende Marktlücke, in die Mikkola da gestoßen ist. Und wie groß diese ist, zeigt sich auch daran, dass bei "Nordic Cuddle" keine zwei Jahre nach Gründung bereits sechs Therapeuten zusammenarbeiten.

Rebekka Mikkola erzählt das alles, als sie auf dem Weg zum Treffen mit Ross ist. Sie analysiert, ohne zu dramatisieren. Eine zierliche 24-Jährige mit blondem Pferdeschwanz und ruhiger Stimme, die den Tag trotz ihrer schnellen Schritte im Modus der Achtsamkeit absolviert. Keine Handlung, kein Richtungswechsel, keine Berührung erfolgt ohne Absprache mit dem Gegenüber. "Ist es okay, wenn wir in ein anderes Café gehen, hier wird es zu laut sein für Ross." Oder: "Könnten wir vielleicht einen kleinen Umweg zur London Bridge machen und Ross dort abholen? Er hat mir gerade geschrieben, dass er sich verlaufen hat und dort wartet. Ross hasst es, wenn er sich nicht zurechtfindet." Sie erklärt, textet, telefoniert, erklärt weiter.

Ihre Klienten seien ein "Querschnitt" der Gesellschaft, sagt Mikkola. Da ist die alleinstehende Rentnerin oder der Finanzmanager mit 65-Stunden-Woche, die junge Frau, die in London keinen kennt, der 20-jährige Student, der von seiner Freundin verlassen wurde oder der 60-jährige MS-Patient, der die Berührungen seiner Frau nicht mehr erträgt, seit er befürchtet, ihr mit seiner Krankheit zur Last zu fallen.

Die einen wollen reden, die anderen lieber eine indische Kopfmassage

Manche wollen nur reden, andere Händchen haltend meditieren oder im Park spazieren gehen, sich von Mikkola auf die Wolken am Himmel oder das Rascheln der Blätter an den Bäumen aufmerksam machen lassen; wieder andere möchten eine indische Kopfmassage oder in Mikkolas Arm einnicken. Ross erklärt, er habe mit Kuscheltherapie begonnen, weil er an leichtem Autismus leide. Er arbeitet bei der Beschwerdestelle der Polizei, hat Familie und macht Videokunst, nur "Gefühle zu lesen, fällt mir schwer. In einer Beziehung war ich ständig überfordert, weil ich nie genau wusste, was von mir verlangt wird." Alle paar Wochen kommt er nun zu Mikkola. Um selbst Zuwendung ohne Überforderung zu erleben. Und um besser zu verstehen, wie Zuwendung funktioniert.

Rebekka Mikkola sagt, sie sei im Grunde nur da, damit all diese Menschen sich regelmäßig selbst spürten; weil das die Voraussetzung für alle Beziehungen zu anderen sei. Mikkolas Aufgabe ist Empathie. Eine Verbindung herstellen, damit andere über sie wieder sich selbst vertrauen, darum geht es. "Berührungen sind da ein extrem starkes Kommunikationsmittel, weil sie eine Menge Emotionen freisetzen." Ebenso wie Gestik und Mimik. Sie zitiert eine Harvardstudie zur Wirkung des Lächelns. Es gebe da eine starke Korrelation. Weil bei Menschen, die man anlächelt, Hormone ausgeschüttet werden, die bewirken, dass sie sich sicher fühlen.

Natürlich weiß auch Mikkola, dass die Wirkung von einem freundlichen Gespräch und ein paar Streicheleinheiten begrenzt ist. Sie sagt ihren Klienten, dass sie nur Symptome lindern kann, aber keinen Einfluss auf die Ursachen hat. Menschen, die mit Ängsten oder Depressionen zu ihr kommen, nimmt sie nur im Ausnahmefall an - wenn der behandelnde Psychologe die Sitzungen bei ihr als Begleittherapie sinnvoll findet.

Rebekka Mikkola hat in Helsinki Betriebswirtschaft studiert und sich dann für Modemanagement in London eingeschrieben. An der Uni sei ihr die Kälte aufgefallen. Künstlich und unpersönlich sei die Modeschule gewesen, sagt sie. "Wir haben dauernd geguckt, was für Klamotten Popstars wie Ariana Grande oder Katy Perry tragen, um dann Moodboards für Promis zu entwerfen, das war echt langweilig." Ihr war nun klar, dass sie "mit Menschen arbeiten" wollte, sie kommt aus einer großen Familie. Als Rebekka Mikkola dann ein Artikel über eine New Yorker Kuscheltherapeutin auffiel, wusste sie, was sie wollte. In den Großstädten der USA haben Kuscheltherapien ihren Ursprung; es gibt inzwischen sogar eine Online-Akademie mit Schnelldiplom.

Als erste Kuscheltherapeutin Londons ist Rebekka Mikkola autodidaktisch an das Thema herangegangen. Sie las "stapelweise" Bücher über Kommunikation, beschäftigte sich mit Massagetechnik. Nach zwei Jahren Erfahrung ist es ihr Ziel, Kuscheltherapeut zu einem anerkannten Beruf zu machen. Ein entsprechendes Zertifikat hat sie bei den Behörden beantragt.

Man wird sehen, sagt sie. Hatte sie eigentlich nie Angst? Eine hübsche Frau, Anfang 20, trifft Menschen, die sich einsam fühlen, um sie in den Arm zu nehmen? Wird das auch missverstanden? Nein, sagt Rebekka Mikkola da, auch ihr Freund fände daran nichts ungewöhnlich. Regeln und Grenzen stünden ja vorher fest. Klienten ließen sich in Vorgesprächen gut einschätzen. Es gibt hin und wieder ein Hygieneproblem, aber es habe sie selbst überrascht, dass sie das nicht störe, sagt sie. Vielleicht liegt es daran, dass ihr neuer Beruf sie verändert hat. Rebekka Mikkola hat in den zwei Jahren, in denen sie jetzt als Therapeutin arbeitet, noch nie einen Menschen getroffen, bei dem es ihr unangenehm gewesen wäre, ihn zu umarmen. Auch das sagt ja am Ende eine Menge darüber aus, wie die Menschen eigentlich miteinander umgehen sollten.

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