Süddeutsche Zeitung

Kunst:Die Schönheit dieser Welt

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Albrecht Dürer, geboren vor 550 Jahren, ist der große Menschenfreund unter den Künstlern. Sein selbstbewusstes Werk feiert die Schöpfung und die eigene Freiheit. Es ist Zeit, den Realisten und Fantasten für die Gegenwart neu zu entdecken.

Von Kia Vahland

Die Italiener haben Leonardo da Vinci, die Niederländer Rembrandt, die Norweger Edvard Munch, und alle sind sie überzeugt, das Talent dieser Künstler repräsentiere die Genialität des ganzen Volkes. Und die Deutschen? Tun sich mit nationalen Mythen aus verständlichen historischen Gründen schwer. So feiern sie auch den 550. Geburtstag Albrecht Dürers, geboren am 21. Mai 1471 in Nürnberg, eher verhalten.

Im kollektiven Gedächtnis hallt zu laut nach, wie sehr der Renaissancemeister aus Franken schon vereinnahmt wurde: im Kaiserreich als Anti-Franzose, im Nationalsozialismus als Garant einer vermeintlichen arischen Überlegenheit, in der DDR als Ahnherr aus der Reformationszeit, von Katholiken seit jeher dagegen als Strenggläubiger und in der frühen Bundesrepublik als unpolitischer Hasenzeichner und harmloser Maler bürgerlicher Frauen, deren Abbilder sich gut auf den Geldscheinen im Wirtschaftswunderland machten.

Nichts davon stimmt. Es hat aber ausgereicht, Generationen von Deutschen einen ihrer wirklichen kulturellen Weltstars zu verleiden, einen Mann, der als Sohn eines ungarischen Goldschmieds in Franken zum allseits gebildeten Künstler aufstieg - was so vielleicht am besten in Nürnberg gelingen konnte, der reichen Patrizierstadt, die formal dem Kaiser unterstand, aber weitgehend selbständig war. Verblendet von späteren Projektionen auf die Person Dürers wird heute oft übersehen, wie frei, wie menschenfreundlich, wie naturbewusst, kosmopolitisch und fantastisch die Gedankenwelt dieses Künstlers und Denkers ist.

Sein Feldhase etwa. Der sitzt da einfach nur, mit seinen schmalen, fein gestrichelten Ohren und dem flauschigen Winterfell, getupft in Braun und Ocker und mit etwas Deckweiß an den Spitzen zum Schimmern gebracht. Doch seine dunklen Augen schauen uns an, die feine Nase erschnuppert uns womöglich, die spitzen Krallen sind in Habachtstellung. Sollten wir seinen langen Schnurrhaaren noch näher rücken, wir bekämen es mit ihm zu tun. Keinen potenziellen Braten hat Dürer seinem Publikum aufgetischt, sondern ein Gegenüber auf Ohrenhöhe. Dabei verhehlt der Zeichner aufmerksamen Betrachtern nicht, dass so viel Natürlichkeit, ganz im Sinne der Renaissance, das Resultat von Kunstfertigkeit ist: In den Augen des Hasen spiegelt sich keine Feldlandschaft, sondern das Fensterkreuz des Künstlerateliers.

Oder Dürers gemaltes Bildnis einer Venezianerin, das einst den Fünfmarkschein zierte. In einer Zeit, als die venezianischen Kollegen idealisierte Liebesbilder junger Frauen entwarfen, betrachtete Dürer sein Modell auf einer Reise in die Lagunenstadt genau, so wie er auch männliche Modelle nach dem Leben porträtierte: die ausladenden Ärmel der jungen Frau, festgebunden auf Höhe der Schlüsselbeine, ihre hellen Locken, die sich aus dem züchtigen Haarnetz befreit haben, ihre bebenden Nasenflügel, ihr versonnener, nachdenklicher Blick, der die Betrachter lieber nicht streift.

Sie ist eine Schönheit - aber eine von dieser Welt.

Oder sein Holzschnitt mit den vier apokalyptischen Reitern, die über die sündige Menschheit herfallen. Der Himmel bricht auf, Gewänder, Mähnen und Schweife flattern im Wind, Pfeil und Bogen sind gespannt, Schwert und Dreizack gezückt. Die Pferde trampeln über dahingeraffte Menschenleiber; irre lacht der Tod auf seinem ausgemergelten Gaul. Es ist, als könne man das Klappern der Hufe hören und riechen, wie das Höllenviech unten links aus dem Maul stinkt. Dürer nimmt die Erzählung des Johannes vom Zeitenende wörtlich und zeigt genau, was in der Bibel beschrieben wird. Auch, auf einem anderen Blatt, den Johannes selbst, wie er schmatzend sein eigenes Buch herunterwürgt.

Das Schöne und das Hässliche? Gehören zusammen

Darüber staunten schon damals die Europäer in dieser Epoche des Aufbruchs, die das Wissen und die Kunst so wertschätzte: Wie Dürer, dieser weit gereiste Aufsteiger und Selbstvermarkter, das Schöne und das Hässliche, den Glauben und die Naturkunde zusammenbrachte. Wie er die sinnliche Farbigkeit der norditalienischen Malerei nach Nürnberg importierte und die deutschen Drucktechniken und bizarren Bilderfindungen südlich der Alpen populär machte. Seine von einem Freund in Übergröße verlegten Holzschnitte der Apokalypse, begleitet vom Bibeltext, wurden schnell zum internationalen Bestseller und begehrten Sammlerstück. In Italien war Dürer bald so erfolgreich, dass er sich mit Plagiatoren herumschlagen musste.

Derweil betörten neben seinen religiösen Gemälden vor allem seine nahbaren, empfindsamen Porträts die Deutschen. Sie atmeten den Geist von Pico della Mirandolas 1496 posthum erschienener "Rede über die Würde des Menschen". Der italienische Philosoph, der Dürers Nürnberger Humanistenfreund Willibald Pirckheimer geprägt hatte, pries den Menschen als Ebenbild Gottes. Was meint: Gott hat dem Menschen einen freien Willen geschenkt, nun ist es an ihm, etwas daraus zu machen und sich seines Schöpfers würdig zu erweisen. Er kann animalisch werden oder engelsgleich, das liegt in seiner Hand.

Dieser bis dahin undenkbare Glaube an die menschliche Schaffenskraft und Entscheidungsfreude hatte um 1500 in Italien bereits die Renaissance beflügelt. Viele Künstler dort hatten sich konsequent von den Konventionen des Mittelalters gelöst und sahen sich sehr selbstbewusst als zweite Schöpfer, die es in ihren Werken dem Herrn gleichtaten. Keiner von ihnen aber trieb diesen Gedanken so weit wie der Italienliebhaber Albrecht Dürer.

Selbstzweifel sind nicht seine Sache. Lieber erforscht er die eigene Person

Früh verlegte der sich auf die Kunst des mal schonungslosen, mal euphorischen Selbstporträts - ganz im Geist der neuen Zeit, die so viel Wert auf Individualität legte. Schon als 13-Jähriger - er machte gerade eine Goldschmiedelehre bei seinem Vater - zeichnete er sich mit Silberstift als so pausbackigen wie ernsthaften und neugierigen Knaben.

Selbstporträt mit 13 Jahren (1484) in der Albertina Wien

Selbstporträt mit Distel (1493) im Pariser Louvre

Selbstporträt vor Bergkulisse (1498) im Prado Madrid

Selbstporträt als Akt im Schlossmuseum Weimar

Selbstporträt in Christuspose (Alte Pinakothek München).

Als Erwachsener nahm er einmal einen Handspiegel und betrachtete sich. Er kam wohl gerade aus dem Bad, ein Haarnetz fing seine langen Locken auf. Ansonsten war er nackt. Dann griff er zu Feder, Pinsel und grün grundiertem Papier. Und zeichnete sein waches, schon etwas runzliges Gesicht, den baumelnden Penis, den trainierten, aber verdrehten Oberleib - ganz aufrecht stehend hätte er sich in dem kleinen Spiegel nicht komplett sehen können. Wissbegierig und sehr aufmerksam erkundete Dürer dieses eine Ebenbild Gottes, das da im Spiegel erschien.

Zu übertriebenen Selbstzweifeln neigte er nicht - wenn auch einer seiner berühmtesten Kupferstiche eine Trübsal blasende Frauenfigur, "Melencolia I", darstellt, schließlich galt in der Zeit auch die Melancholie als Eigenheit kreativer Denker. Doch Dürers Selbstporträts strahlen zumeist Optimismus aus. Ihnen ist die Freude anzusehen, es als Sohn eines Zuwanderers geschafft zu haben in der Stadt der Kaufleute.

1498 malte er sich vor einer Bergkulisse als junger Edelmann in modisch gestreiftem Outfit, die Hände in elegante Handschuhe gehüllt - als wäre er kein Maler, der mit den Fingern arbeitet und diese entsprechend beschmutzt. So begehrte er auf, wie vor ihm Leonardo da Vinci, gegen die überholte Behandlung von Künstlern als niedere Handwerker.

Sein Statusbewusstsein verleitete ihn schließlich dazu, sich einen mit Marderpelz gefütterten Mantel zuzulegen. Er brauchte den Umhang für sein gewagtestes Porträt: das des Malers als Jesus Christus. Oder andersherum.

Sorgsam muss Dürer dieses Selbstbildnis als Heiland vorbereitet haben. Er zwirbelte seinen Schnäuzer, wie er es gerne tat - einer seiner Freunde lästerte einmal: "Sein Schnabelbart hindert ihn, den er gewiss täglich dreht und kräuselt, dass er gleich Eberzähnen von ihm absteht." Dann drehte er seine ungewöhnlich langen Locken, bis sie ihm fein gewellt über die Schulter fielen. Auch die Finger pflegte er, feilte die Nägel. Schließlich posierte er vor dem Spiegel. Und malte sich in Nahsicht. Frontal. Ohne eine Miene zu verziehen. So wie bis dahin nur Jesus Christus dargestellt worden war.

Dürers rechte Hand scheint sich auf dem Gemälde zum Segen zu heben, dann aber stoppt sie auf halber Strecke und streichelt am Kragen das kostbare Fell. Vielleicht spielt der Maler darauf an, dass diese Hand normalerweise einen Pinsel, ebenfalls aus Marderhaar, umgreift. Oder er wollte sein Publikum wissen lassen, dass er als Handwerker einen so kostbaren Mantel trägt, wie es Ratsmitgliedern und hohen Herren vorbehalten war (tatsächlich wurde Dürer trotz seiner nicht noblen Herkunft im Jahr 1509 in den Großen Rat Nürnbergs berufen).

Vor allem aber feiert das Bild die kreative und intellektuelle Freiheit, die Gott den Menschen geschenkt hat - eben weil sie sein Ebenbild sind. Dürer bedankte sich für das Geschenk beim Herrn, indem er dessen Geschöpfe und Gewächse beobachtete. So entstanden Zeichnungen wie das "Große Rasenstück", bei dem eine Wiese wie ein Dschungel erscheint - betrachtet aus Höhe eines Käfers. Wie vor ihm schon der Empathiker Leonardo da Vinci zollte auch Dürer jedem Lebewesen Respekt.

Wissensdurst und Fantasie: Dieser Künstler lebt beides aus

Was nicht ausschloss, Lücken des Wissens mit wilder Fantasie zu füllen. So hatte Dürer nie ein Panzernashorn gesehen - wie die meisten anderen Europäer auch nicht. Im Jahr 1515 landete schließlich ein Nashorn als indischer Import in Lissabon und erregte auf dem ganzen Kontinent Aufmerksamkeit. Beobachter schickten Beschreibungen auch nach Nürnberg. Das genügte Dürer für eine Zeichnung, nach deren Vorlage ein Holzschnitt entstand.

In seinem Panzerkörper wirkt Dürers Tier ein bisschen wie ein Ritter, zudem trägt es im Nacken ein zweites kleines Horn, das es in der Natur nicht gibt. Doch die günstigen Abzüge des Holzschnitts wurden auf den Märkten ein Kassenschlager; auch nach Dürers Tod musste der Druckstock für weitere Auflagen herhalten. Überprüfen konnte die Naturnähe niemand, denn das Nashorn hatte auf seinem Weitertransport nach Rom Schiffbruch erlitten und war ertrunken.

Erst Dürers Druckgrafiken, die Holzschnitte und Kupferstiche, machten ihn europaweit auch im Volk bekannt - und finanziell unabhängig von Bestellern einzelner Gemälde. Zugleich mehrten Dürers Nürnberger Humanistenfreunde seinen Ruhm als Meister der Renaissance, der es mit der Natur aufzunehmen verstünde. Der Dichter Conrad Celtis etwa behauptete, Dürers Hund habe sich an eines der Selbstporträts angeschmiegt und sein Herrchen mit der Schnauze berührt, so realistisch wirke das Werk. Was nicht nur Dürers Kunst lobt, sondern auch sein elegantes, beinahe höfisches Erscheinungsbild.

Als Albrecht Dürer am 6. April 1528 in Nürnberg starb, dauerte es nur wenige Tage, und Verehrer gruben den Sarg auf dem Johannisfriedhof wieder aus, um dem Leichnam eine Totenmaske abzunehmen. Auch eine Locke kam in Umlauf; Dürers Lieblingsschüler Hans Baldung Grien bewahrte sie für die Nachwelt auf. Später, im 19. Jahrhundert, feierten Künstler eine Dürermesse, in der sie aus der Vita des Meisters lasen; auch die Literaten der Romantik verehrten Dürer wie einen Heiligen der Kunst.

Nur die Moderne fremdelte und fremdelt hierzulande mit dem alten Franken. Während er international in einer Reihe mit Michelangelo und Raffael gesehen wird, tun sich die Deutschen trotz ihrer gut sortierten Dürer-Sammlungen, etwa in Nürnberg, immer noch schwer mit der Grandiosität dieses Mannes. Dabei verkörpert er wie kein anderer Deutscher einen Renaissancehumanismus, der den Menschen als Ganzes erkennt - als Mischwesen aus Körper und Geist, das erst durch seine unbändige Fantasie zum Gestalter wird, im produktiven, nicht im zerstörerischen Sinne.

Dürers Œuvre zeigt, wie gut Leichtigkeit und Ernst, Fantasie und Wissensdurst, Selbstbewusstsein und Sensibilität, Internationalität und Heimatgefühl harmonieren, wenn man nur will. All das also, was in der Gegenwart als unvereinbar gilt. Es ist an der Zeit, sich mit dem Hasen wieder zu vertragen.

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