Süddeutsche Zeitung

Krieg:Mitgenommen

Wer flüchtet, muss eine Menge zurücklassen. Hier erzählen Kinder und Jugendliche, was sie trotzdem retten konnten. Diesmal: Emiliia, 16, aus Kiew in der Ukraine. Sie lebt seit zwölf Monaten in Bochum und hat eine Holzhand mitgenommen.

Protokoll: Nina Himmer

"Das, was ich mitgenommen habe, tauchte unerwartet in meinem Leben auf. Es ist eine Hand aus Holz. Ich habe sie in einem ganz normalen Supermarkt in Kiew gekauft. Die Hand erregte sofort meine Aufmerksamkeit, und ist inzwischen tief in meine Seele gesunken. Jeder ihrer Finger lässt sich einzeln bewegen, sie ist bezaubernd. Die Person, die sie gemacht hat, hat all ihr Können und ihre Seele hineingesteckt. Ich spüre das. Zu Hause in Kiew stand die Hand auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie gern berührt, gedreht und ihre Finger bewegt. Dann kam der Krieg. Alle drei Stunden ertönte eine Sirene, jeden Tag. Die ersten Tage waren die intensivsten. Raketen sind in unserer Gegend explodiert. Ich werde mich mein Leben lang an dieses Geräusch und die Blitze erinnern. Nach einer Nacht im Keller haben wir beschlossen zu fliehen. Es gab nur sehr wenige Dinge, die ich mitnehmen konnte. Nur das, was in meinen Rucksack passte. Vielleicht ist es komisch, ausgerechnet eine Holzhand einzupacken, aber ich konnte sie nicht zurücklassen. Ich habe die Hand in meinen Rucksack gesteckt und mir große Sorgen gemacht, dass sie auf dem langen Weg nach Deutschland kaputtgehen könnte. Jetzt steht sie auf der Fensterbank. In einem neuen Zimmer, in einer neuen Wohnung, in einer neuen Stadt: Bochum. Hier wohne ich seit fast einem Jahr. An ihrem neuen Standort kann ich sie immer betrachten, jeden Tag. Sie erinnert mich an die Zeit vor dem Krieg, an bessere Tage. An mein Zuhause, meine Schule, meine Freunde und Verwandten, mein Wasserball-Team - und meine Geschichte. Für mich ist die Holzhand aber auch ein Symbol dafür, dass Deutschland mir eine helfende Hand gereicht hat. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber es sind immer noch Menschen in der Ukraine, ich kenne viele von ihnen und mache mir jeden Tag Sorgen um sie."

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Quelle:
SZ vom 11.03.2023
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