Krieg:Mitgenommen

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Wer flüchtet, muss eine Menge zurücklassen. Hier zeigen Kinder und Jugendliche, was sie trotzdem retten konnten. Diesmal: Artyom, 8, aus Druschkiwka in der Ukraine. Er lebt seit dem letzten Sommer in Bautzen.

Protokoll von  Albina Bakuha

"Das klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber ich habe ein Spiel mitgebracht. Ein Brettspiel, um genau zu sein. Es heißt Carcassonne Amazonas und meine Tante hat es mir zu meinem siebten Geburtstag geschenkt. Zuhause in der Ukraine haben wir es oft am Wochenende gespielt, die ganze Familie ist dafür zusammengekommen: Meine Mutter, mein Vater, meine kleine Schwester Lesya und sogar meine Großeltern - eben alle, die ich liebe. Als wir das Spiel zum ersten Mal gespielt haben, hat mein Vater sich ein paar zusätzliche Regeln ausgedacht und sie aufgeschrieben. Dann hat er uns das Spielen beigebracht. Diese Stimmung am Küchentisch werde ich nie vergessen: Wir alle zusammen, am spielen, reden, lachen. Ich glaube, das ist die glücklichste Erinnerung meines Lebens. Ich vermisse dieses Zusammensitzen wahnsinnig. Fast genauso sehr wie meinen Papa, meine Oma und meinen Opa, die in der Ukraine geblieben sind. Natürlich fühle ich mich hier in Deutschland auch wohl, aber zu Hause ist es immer besser. Einfach, weil man dort sein ganzes Leben hat und man nicht so viel vermissen muss. Bei dem Spiel gibt es viele Regeln und Möglichkeiten: Es geht darum, mit Booten einen Fluss entlang zu fahren, so weit wie möglich. Unterwegs muss man mit verschiedenen Spielzügen Tiere entdecken, Dörfer im Dschungel besuchen und neue Gebiete erschließen. Und man kann den Amazonas mit speziellen Flussfeldern verlängern. Was ich an dem Spiel am meisten mag, ist, dass es so lange dauert und nie langweilig wird. So kann man ganz viel Zeit mit der Familie verbringen. Das vermisse ich im Moment am meisten. Meine Mama, meine Schwester und ich sind letzten Sommer wegen des Krieges nach Deutschland gekommen. Ich weiß nicht mehr genau, wann wir hier angekommen sind. Aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Reisen in der Realität ist sehr viel schwieriger als Reisen auf einem Spielfeld. Das Spiel macht immer noch Spaß, aber nur zu dritt ist es einfach nicht dasselbe."

© SZ vom 11.02.2023 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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