Süddeutsche Zeitung

Krieg:"Lieber deutscher Mitmensch, du weißt gar nicht, wie glücklich du sein kannst, in Frieden zu leben!"

So beginnt jeder der Briefe von ukrainischen Schülerinnen der Schiller-Schule in Bochum. Ein Jahr ist in ihrer Heimat nun schon Krieg: Vier Briefe in Auszügen.

Amaliia, 12, aus Bachmut

"Kennst du das Gefühl von Angst? Wenn du von Explosionen aufwachst? Wenn Raketen fliegen und du sie aus dem Fenster deines Zimmers siehst? Wenn du immer wieder Explosionen hörst, direkt in deiner Nähe? Ich komme aus Bachmut. Meine Stadt ist zerstört. Meine Schule ist abgebrannt. Mein Zuhause gibt es nicht mehr. Fast alle aus meiner Familie sind geflohen. Sie wohnen jetzt woanders. Wir spielen nicht mehr zusammen, wir gehen nicht mehr im Park spazieren, wir fahren nicht mehr Fahrrad, wir feiern keine Feste mehr zusammen. Ich vermisse diese glücklichen Tage, als unsere Familie zusammen war. Nur mein Großvater blieb in Bachmut. Es gibt dort keinen Strom, kein Wasser, kein Gas, kein Telefon. Er schöpft Wasser aus der Quelle und heizt seinen Ofen an. Es gibt einen Garten, in dem Äpfel, Pflaumen, Birnen, Pfirsiche und Aprikosen wachsen. 'Amaliia, willst du nach Hause?' Ich weiß nicht, wie ich diese Frage beantworten soll. Weil ich verstehe, dass mein Zuhause weg ist und es keinen Ort gibt, an den ich zurückkehren kann."

Emily, 16, aus Kiew

"Ich möchte meine Geschichte eine Woche vor dem Krieg beginnen. Da war ich mit der ukrainischen Wasserball-Nationalmannschaft bei der EM in Rumänien. Die Mädels aus der deutschen Mannschaft waren unglaublich. Am 21. Februar 2022 ging es zurück in die Ukraine. Alles wie gewohnt, ich ging zur Schule, trainierte, ging mit Freunden aus, träumte und schmiedete Pläne. Pläne, die es nur Tage danach zerfetzte. Meine Großmutter ist 88 Jahre alt. Für sie ist dies nicht der erste Krieg. Sie war damals sieben Jahre alt, hat mir viel über den letzten Krieg erzählt. Ihr Haus ist abgebrannt. Sie hungerte. Viele Jahre lang. Sie ist eine starke Frau. Aber die Explosionen machen ihr jedes Mal Angst. Krieg bringt immer Zerstörung und Tod. An Tag zehn des Krieges sagte meine Mutter, dass wir gehen würden. Ich packte schnell und wir gingen zum Bahnhof. Wie sich meine Stadt in wenigen Tagen verändert hat: Keine Menschen auf den Straßen, überall Panzer und bewaffnete Posten. Straßen sind gesperrt, Geschäfte geschlossen. Schüsse und Explosionen. Auf der Flucht habe ich viel erlebt, Leute die schreien, fluchen, stürzen. Angst und Entsetzen in den Augen. Menschen, die irgendwie versuchen, in den Zug zu kommen. Menschen, die einander in die Arme nehmen. Die sich mit Sitzen und Stehen abwechseln. Am 8. März kam ich an, Vereinsmitglieder von Blau-Weiß-Bochum holten uns ab, der Cheftrainer, die Sportler-Kolleginnen. Dank dieser Menschen habe ich mich in Bochum verliebt. Es begann ein neues Leben. Klar, es war und es ist manchmal verdammt schwierig. Aber mit denselben Mädchen, über die ich bei der EM in Rumänien noch so gestaunt habe, kann ich jetzt im Team spielen. Danke!"

Margo, 14, aus Charkow

"Am Anfang war es sehr schwierig für mich, hier in Deutschland zu leben. Ich verstand kein Wort, alle sahen mich ständig an, auch die Nächte waren schwierig. Mich ließ der Gedanke nicht los, dass ich hier friedlich schlafen sollte, während in meinem Land Hunderte von Menschen sterben. Ich versuchte mich davon abzulenken, aber ich weinte und weinte, jeden Abend. Erst nach einem halben Jahr wurde es langsam besser. Freunde wurden wieder wichtiger, ich schaute weniger ins Handy. Ich begriff, dass ich nie wieder in die Vergangenheit vor dem Krieg zurückkehren werde. Trotzdem ist ein Teil meines Herzens immer noch dort und wird es immer sein. Der Krieg in der Ukraine ist fast so etwas wie Alltag geworden. Das darf nicht sein. Ich möchte nach Hause zurückkehren. Ich möchte nicht, dass weitere Tausende von Menschen sterben. Ich will Frieden! Das ist meine Geschichte und sie ist noch nicht zu Ende."

Karyna, 12, aus Kropywnyzkyi

"Es ist schwierig für Außenstehende zu verstehen, was für ein tragisches Datum der 24. Februar für uns Ukrainer ist. Der Gedanke, dass ich jetzt in Frieden lebe und die Menschen in meiner Heimat ohne Licht und ohne Essen auskommen müssen, tut mir weh. All die Krieger, die mein Land beschützen, wie mein Vater. Ihn vermisse ich am meisten. Ich liebe ihn sehr. Er ist im März in den Krieg gezogen, und er ist immer noch dort. Manchmal weine ich, weil sich so viele Dinge in meinem Leben geändert haben. Dinge, über die nicht frei entscheiden konnte. "Erst nachdem wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun." Das ist ein Zitat aus dem Film Fight Club. Bochum erinnert mich an meine Heimat Kropywnyzkyi, so wie sie früher war. Denn meine Stadt ist nicht mehr so, wie ich sie verlassen habe."

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SZ vom 25.02.2023
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