Süddeutsche Zeitung

Krebs bei Kindern:Gesund auf Bewährung

Vor 50 Jahren überlebten nur zehn Prozent der Kinder eine Krebserkrankung, heute schaffen es immerhin drei von vier. Doch die Spätfolgen einer erfolgreichen Therapie in jungen Jahren sind zu wenig erforscht.

Pia Heinemann

Vor 50 Jahren überlebten nur zehn Prozent der Kinder eine Krebserkrankung, heute schaffen es immerhin drei von vier.

1800 der zwölf Millionen in Deutschland lebenden Kinder erkranken jährlich an Krebs und 1350 Kinder besiegen ihn dank verbesserter Therapien. Krebs ist somit bei Kindern zu einer heilbaren Krankheit geworden.

Doch je älter Krebsüberlebende werden, desto mehr wissen Ärzte über die Auswirkungen, die die Behandlung auf das Überleben hat. Chemo- und Strahlentherapie vernichten schließlich nicht nur bösartige Krebszellen, sie können auch gesunde Organe schädigen oder Jahre später chronische Krankheiten auslösen.

"Zu den häufigsten Spätfolgen zählen - je nach Krebs - Herzmuskelerkrankungen, Hörverlust, Nierenschäden, Wachstumsstörungen, Schilddrüsenunterfunktion sowie neuropsychologische oder kognitive Leistungsstörungen", sagt Thorsten Langer, Studienleiter des Late Effects Surveillance Systems (LESS) in Erlangen, das Spätfolgen von Chemotherapien registriert.

Wechseljahre mit Anfang 30

Eine amerikanische Studie zeigte 1999, dass manche Frauen, die in ihrer Kindheit mit einer bestimmten Krebstherapie behandelt wurden, schon mit Anfang 30 in die Wechseljahre kamen. Welche Krebsart und welche Behandlungsmethode welche Spätfolgen auslöst, erfahren Ärzte und Patienten jedoch nur nach und nach.

Um die Folgen der Therapie besser einschätzen zu können, läuft seit 1970 in den USA eine große Studie, die Überlebende begleitet und ihre Gesundheit mit der ihrer Geschwister vergleicht. Dieser Vergleich hat den Vorteil, dass das Erbgut der Geschwister ähnlich ist und sie unter gleichen sozialen Bedingungen aufwachsen.

So soll untersucht werden, ob eine Krebstherapie die Ursache für später im Leben auftretende Krankheiten ist. Eine aktuelle Auswertung zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer schweren Krankheit zu erkranken, für Krebsüberlebende achtmal höher ist als für ihre Geschwister.

Vor allem bei Überlebenden des Lymphtumors Morbus Hodgkin und von Knochenkrebs verstopfen häufig Herzkranzgefäße oder es treten Bewegungsstörungen auf.

Gehirn, Gehör und Sehsinn von Kindern, die einen Hirntumor überleben, entwickeln sich oft nicht richtig. Sie müssen mit Hormon- und Wachstumsstörungen rechnen. Männer erkranken später eineinhalbmal so häufig an schweren Krankheiten wie Frauen.

Je älter ein Kind bei der ersten Krebserkrankung war, desto eher erkrankt es später (New England Journal of Medicine, Bd. 355, S. 1572, 2006). Jüngere können die Therapiefolgen offenbar besser ausgleichen.

In Deutschland werden seit Ende der siebziger Jahre die Daten aller Kinderkrebspatienten im Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz (DKKR) gesammelt. Alle Patienten und ihre Krankheiten werden erfasst, um die Infrastruktur für eine mittel- und langfristige Nachsorge bereitzustellen.

"Mehr als 95 Prozent aller Patienten werden zentral dem Kinderkrebsregister gemeldet", sagt Ursula Creutzig, Geschäftsführerin der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH).

"In Deutschland werden fast alle Kinder einheitlich für die jeweilige Krankheit behandelt." Damit sei die Datenlage im europäischen Vergleich recht gut. In Großbritannien werden nur etwa zwei Drittel der Kinder nach festen Schemata behandelt, in Frankreich und Spanien sei die Zahl wesentlich geringer.

Mangelnde Nachsorge

Langfristige Folgen der Strahlentherapie werden im Register zur Erfassung strahlentherapiebedingter Spätfolgen bei Kindern und Jugendlichen (RISK) in Münster erfasst, die Folgen der Chemotherapie beim LESS. Düsseldorfer Forscher untersuchen die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen, die mit Strahlen- oder Chemotherapie behandelt wurden.

"Wir müssen nicht nur berücksichtigen, wie sich die Patienten fühlen, sondern auch, wie sie langfristig in Familie und Berufsleben eingebunden sind und wie sich ihre schulische und berufliche Perspektive entwickelt", sagt Studienleiterin Gabriele Calaminus.

Spätfolgen können nur durch intensive Nachsorge früh diagnostiziert werden. In den USA hapert es daran. Nur knapp 20 Prozent der Überlebenden gehen regelmäßig zu Untersuchungen in Krebszentren - je länger der Krebs überwunden ist, desto seltener. Dadurch gehen Ärzten wichtige Daten über Spätfolgen verloren und die Therapien können nicht so gut für kommende Patienten abgewandelt werden.

Spätfolgen trotz verbesserter Behandlungen

"Wenn ein Patient den Krebs überwunden hat, sollte er möglichst lange zur Nachsorge", sagt Peter Kaatsch, Leiter des DKKR. Denn je schlechter die ehemaligen Krebspatienten nachbetreut werden, desto schlechter werden sie auch wieder integriert.

Werden systematisch Daten zu den Spätfolgen erhoben, verbessert sich auch die Behandlung: Seit Einführung von Chemo- und Strahlentherapie in den siebziger Jahren wurde die Dosierung ständig optimiert.

Anfang Oktober präsentierten Mediziner ein verbessertes Gerät für die Lungenkrebsbestrahlung. Es wird durch die Atmung gesteuert: Nur beim Einatmen werden Strahlen freigesetzt. So wird der Tumor immer in ähnlicher Lage getroffen und umliegendes Gewebe weniger bestrahlt.

Auch bei Morbus Hodgkin hat intensive Nachbetreuung gute Erfolge erzielt. "Am Anfang wurde der Lymphknotenkrebs mit hohen Strahlendosen therapiert", sagt Ursula Creutzig. "Dann wurde die Strahlentherapie beim Morbus Hodgkin immer weiter zurückgenommen und die Chemotherapie optimiert - mit dem Erfolg, dass Zweittumoren seltener werden und Spätfolgen wie Unfruchtbarkeit bei Männern zurückgehen."

Dennoch nimmt das Problem der Spätfolgen von Krebstherapien zu: Im Jahr 2000 war in Deutschland nur einer von 900 Menschen im Alter zwischen 15 und 45 Jahren ein Krebsüberlebender, 2010 wird es einer von 250 sein. Deshalb sind Daten über Folgeerkrankungen wichtig.

"Ein Problem der Krebsnachsorge bei Kindern ist, dass sie irgendwann nicht mehr zum Kinderarzt gehen, sondern zu Erwachsenenärzten", sagt Ursula Creutzig.

Die Pubertät und der Wechsel des Arztes verführten viele Patienten dazu, ihre überwundene Krankheit zu verdrängen. Creutzig schlägt vor, Erkrankung, Therapie und Nachsorgeempfehlung jedes Kinderkrebspatienten etwa auf der Krankenkassenkarte zu speichern - damit neue Ärzte von der Krankheit informiert werden.

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Quelle:
SZ vom 9.11.2006
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