Süddeutsche Zeitung

Krankengeschichte auf Twitter:Mein Krebs in 140 Zeichen

Nadine Weiskircher ist an Krebs erkrankt, bei Twitter berichtet sie jeden Tag von ihrer Krankheit. Warum? Weil es zu ihrem Leben gehört. Fast tausend Menschen verfolgen die Fortsetzungsgeschichte in 140-Zeichen-Kapiteln - und dürfen sich jetzt über gute Nachrichten freuen.

Von Laura Hertreiter

Nadine Weiskircher wippt im Tropftakt der Infusion mit den Füßen. Um sie herum sind fünf andere Patienten in graue Sessel gesunken, Augen halb geschlossen, Schläuche am Arm. Die 27-Jährige - schwarze Klamotten, Schnürstiefel, braunes Kopftuch - sitzt keine Minute still. Scherzt mit der sommersprossigen Pflegerin der Berliner Charité-Klinik, telefoniert, tippt, scrollt und wischt auf dem Handydisplay.

Als nach drei Stunden der letzte Rest aus dem Plastikbeutel in ihre Venen sickert, knipst sie ein Foto, schreibt einen Tweet. "Letzte Infusion." Dann schiebt sie das Handy in die Tasche. Die Chemotherapie ist vorbei, endgültig.

Ein halbes Jahr liegt hinter Nadine Weiskircher, in dem der Lymphdrüsenkrebs jeden einzelnen Tag beherrscht hat. Arztpraxen, Krankenhäuser, Infusionen, Tabletten und immer wieder: Twitter. Über den Kurznachrichtendienst hat sie unter dem Namen @nadine_berlin über ihr Leben mit der Krankheit geschrieben, von der sie nun mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 100 Prozent als geheilt gilt. Eine Fortsetzungsgeschichte in 140-Zeichen-Kapiteln und Dutzenden Bildern, täglich verfolgt von knapp tausend Menschen.

Leidensgeschichten im Netz

Im Netz gibt es unzählige solcher Fälle, hinter denen ganz unterschiedliche Leidensgeschichten stehen. Junge Frauen, die sich in Youtube-Videos die wegen der Medikamente lichter werdenden Haare abrasieren. Anonyme User, die in Foren zweifelhafte Informationen über die Nebenwirkungen bestimmter Medikamente austauschen. Und Blogger, die den Verlauf ihrer Krankheit wie ein öffentliches Tagebuch publizieren.

Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf schrieb bis zu seinem Tod im August über sein Leben mit dem Gehirntumor. Der amerikanische Medienprofessor Jeff Jarvis sorgte vor vier Jahren mit Blogeinträgen über seinen Prostatakrebs für Aufsehen. Er sei auf der Suche nach öffentlicher Unterstützung und Rat, begründete er seine Entscheidung für eine radikal öffentliche Lebensführung.

@nadine_berlin beschrieb auf Twitter den metallenen Geschmack, der sich im Mund ausbreitet, wenn die Infusionen ins Blut gelangen. Sie scherzte über ihre Glatze, als sie ihr langes blondes Haar verlor: "Kalter Kopf sind meine neuen kalten Füße." Sie motzte über Langeweile in Wartezimmern und Abrechnungsärger mit Krankenkassen. Verzweiflung, Wut, Schmerzen, Angst - sie machte alles öffentlich.

"Die Diagnose war wie ein Tritt in den Magen"

Warum? Nadine schaut verständnislos. Die Frage habe sie sich nie gestellt, sagt sie während ihrer letzten ambulanten Behandlung. Die Krankheit gehöre zu ihrem Leben - und damit zu @nadine_berlin. Seit fünf Jahren teilt sie sich auf Twitter mit. Sie ist in Chatrooms groß geworden, wo man mit Fremden plaudert. Mit sozialen Netzwerken, in denen Freundschaften mit ein paar Klicks gepflegt werden. Für Nadine, die gerne plaudert und laut lacht, ist Twitter wie eine Stehparty, ein ewiges Gemurmel von Interessantem, Witzigem, Überflüssigem. Deshalb schreibt sie über ihr stressiges Studium, ihren spendablen Vater, ihren fabelhaften Freund. Und eben auch den Krebs.

Der krachte im August 2012 mit voller Wucht in den Alltag der Studentin. Draußen flimmert Hitze über Berlin, in ihrer Wohnung am Prenzlauer Berg beginnt sie zu frieren und schlottern. Bis irgendwann alles schmerzt und dröhnt und zittert. Schüttelfrost, Fieber, Krämpfe. Der Arzt verschreibt Grippemedikamente, wochenlang. Andere Ärzte, andere Diagnosen, andere Medikamente. Es wird Herbst, Winter, Frühling. Nadine bleibt krank, mal mehr, mal weniger. Erst als im August die Hitze zurückkehrt, entdeckt eine neue Ärztin den Krebs. Sie untersucht Nadines geschwollenen Hals mit einem Ultraschallgerät und wird dabei sehr schweigsam.

Die Diagnose war wie ein Tritt in den Magen, sagt Nadine. Als das Wort "Krebs" fiel, fühlte sie sich gelähmt. Ein Leben lang hatte sie das Gefühl, ein Glückskind zu sein. Nun kreisten Ängste in ihrem Kopf. Vor der Chemotherapie. Davor, die Haare zu verlieren. Oder Freunde. Manchmal auch Angst vor dem Sterben. An dem Punkt, sagt sie, will man entweder gar nichts mehr wissen - oder alles.

Twittern gegen Krebs

Sie entscheidet sich für alles. Liest, googelt, twittert. "Ich habe Krebs und werde darüber twittern. Jeder, der ein Problem damit hat, sollte mich für das nächste halbe Jahr entfolgen", schrieb sie im August. Seither hat sie mehr Follower denn je. Sie twittert, wenn die Stunden am Chemo-Tropf stillstehen, wenn sie nachts wach liegt, weil die Medikamente ihr Herz zappeln lassen wie einen an Deck geworfenen Fisch.

Anfangs twittert sie gegen die eigene Hilflosigkeit an. Dann aber vor allem gegen das Wort "Krebs". Weil es einen Wust unterschiedlicher Erkrankungen zusammenfasst. Blutkrebs, Brustkrebs, Hautkrebs und all die anderen Schreckgespenster. "Wie gut oder lange man mit dem jeweiligen Krebs leben kann, ist so unterschiedlich. Trotzdem trifft der Begriff alle Patienten, die Familie, die Freunde mit derselben Wucht", sagt Nadine.

Sie selbst war am Hodgkin-Lymphom erkrankt, einem bösartigen Tumor des Lymphsystems, in ihrem Fall hatten die Ärzte von Anfang an gute Heilungschancen vorausgesagt. Aber, sagten sie, selbst wenn zwei Menschen die selbe Art von Krebs haben, stecken sie die Nebenwirkungen einer Therapie möglicherweise ganz unterschiedlich weg.

Krebs nicht gleich Todesurteil

Das will @nadine_berlin zeigen: "Je mehr Geschichten sichtbar werden, desto deutlicher wird, dass Krebs nicht gleich Todesurteil ist." Sondern? In Nadines Fall: Krämpfe in den Händen. "Fühlt sich wie Elektroschocks von innen an", twitterte sie. Von Infusionen zerstochene Arme: "Sehe mittlerweile aus wie ein Junkie". Und verletzende Blicke anderer Kunden beim Bäcker, als sie mit kahlem Kopf Brot kauft: "Kurz davor gewesen zu schreien".

Das Aufleuchten des Handydisplays hat Nadine während der sechsmonatigen Therapie begleitet. Viele ihrer Follower haben selbst Krebs oder krebskranke Freunde. Sie stellen Fragen, oft auch solche, die eigentlich nur ein Arzt beantworten kann. "Das ist das Gefährliche an Diskursen über Krankheiten im Netz", sagt Nadine. "Es wimmelt vor vermeintlichen Experten, überall kursieren falsche Informationen." Ihre Follower schicken Glückwünsche und zeigen Anteilnahme, fast immer. Einer allerdings beschimpfte sie als geltungssüchtig. Dabei sei sie kein Mensch, der gern im Mittelpunkt steht, sagt Nadine.

Als sie die Charité-Klinik an jenem Herbsttag zum letzten Mal verlässt, schlägt ihr frostiger Wind entgegen. Sie setzt sich trotzdem einen kurzen Moment auf eine Holzbank. Weil sie erschöpft ist. Aber auch, weil langsam das Gefühl zurückkehrt, großes Glück zu haben.

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Quelle:
SZ vom 07.11.2013/cal
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