Konkurs:"Wenn schon Absturz, dann richtig"

Götz Wörner

Götz Wörner: Ich hatte alles verloren, die Freundin, die Wohnung: Wenn schon Absturz, dann richtig

Quelle: Robert Bosch Stiftung

(Foto: Tobias Bohm; Tobias Bohm)

Götz Wörner jettete als Musikproduzent um die Welt und angelte Haie mit berühmten Musikern. Dann kam die Katastrophe. Er musste sich neu erfinden.

Protokoll: Lars Langenau, Frankfurt am Main

"2008 war ich am Boden: Das Telefon funktionierte nicht mehr, in der Wohnung stellte der Versorger den Strom ab. Meine Musik-Label war bankrott und ich seit sechs Jahren abhängig von Hartz IV. Der Arsch ging mir auf Grundeis.

Ursprünglich stamme ich aus Pforzheim und machte dort mein Abitur. Nach der Schule schrieb ich mich in Heidelberg für Soziologie und Ethnologie ein. Von einer Tante erbte ich ein Häuschen. Mit 18 Jahren fing ich an, Konzerte zu veranstalten und Musik zu produzieren. 1978 veröffentlichte ich ein Album des Liedermachers Sergio Vesely, der vor Pinochet aus Chile geflohen war. Zugegeben, poetische chilenische Musik war schon damals nicht gerade die große Cash Cow. Immerhin verkaufte ich 5000 Stück.

Ich glaubte an die große Zukunft für lateinamerikanische Musik in Europa, die es ja auch heute gibt. Nur war ich einfach zu früh dran. Mit Anfang 20 zog ich mit dem Köfferchen los und verkaufte daraus meine ersten Platten. Ich bekam Geld rein, der Job machte mir Spaß. Immer wieder fuhr ich nach Paris, um dort neue Musiker aufzustöbern. Da hörte ich zum ersten Mal Mercedes Sosa - und zum ersten Mal auch Tango.

1985 lernte ich in Paris den Argentinier Astor Piazzolla kennen, den Erfinder des 'Tango Nuevo'. Ich nahm ihn unter Vertrag und brachte seine erste CD in Deutschland raus. Es war meine erste seriöse Platte. 'The Vienna Concert' verkaufte sich weltweit 250 000 Mal, davon allein 40 000 Mal in Deutschland. Diese Platte wurde zum Motor meiner neugründeten Schallplattenfirma 'Messidor'. Zu Piazzolla hatte ich ein sehr gutes Verhältnis, einmal nahm er mich in Uruguay sogar mit zum Haiangeln.

Ich lernte Spanisch und reiste viel - auch ins damals noch ziemlich abgeschottete Kuba. Die Kubaner, die ich traf, spielten zwar wunderbare Musik, aber ihre Produktionen waren grauenhaft. Also buchte ich die besten Studios. Ich wollte keinen Tango mit Pomade, keine glorreichen Venceremos-Gesänge und auch keine Lambada-Arschwackelmusik produzieren. Das Spektrum meines Labels reichte von Folkmusic aus den Anden bis afrokubanischem Jazz.

Konsequent unkommerziell

'Messidor' war nur ein Ein-Mann-Unternehmen, aber es lief. Ich wollte mein eigenes Ding machen und baute mir weltweit eine Vertriebsstruktur auf. Ich wollte sogar ein Büro in New York eröffnen, düste in die USA, nach Kuba, Argentinien, Brasilien - und immer wieder nach Frankreich. Zeitweise hatte ich sogar die Rechte an den Kompositionen des Buena Vista Social Clubs, allerdings noch vor deren Boom. Zu meinen Künstlern zählten die Jazz-Künstler Paquito D'Rivera und Arturo Sandoval. Ich organisierte Konzerte mit dem Salsamusiker Willie Colón, dem Sänger Ruben Blades aus Panama, der kubanischen Band Los Van Van - alles Stars, die in Südamerika Stadien füllten. Und ich arrangierte das erste Salsa-Festival auf deutschem Boden.

Dabei blieb ich konsequent unkommerziell. Obwohl ich ständig unterkapitalisiert war und finanzielle Durststrecken zu überwinden hatte, ging es im Großen und Ganzen bis 1999 gut: Ich jettete durch die Welt. Traf Musiker in Havanna, Rio, Tokio, Paris und düste mit der Concorde von London nach New York. Ich kümmerte mich um meine Musiker, wollte musikalisch das Beste. Auf einer Plattenhülle durfte es auch mal ein Text von Gabriel Garcia Marquez sein. Klar, dass das kostet. Aber ich wurde ja auch belohnt. Selbst die International Herald Tribune schrieb 1993 ein großes Porträt über mich. Musikproduzent, immer unterwegs: Was für ein Leben.

Sechs Jahre beobachtete ich Raben im Park

Andere Produzenten wurden zu dieser Zeit Millionäre. Ich verbrachte damals bereits mehr Zeit mit Bankern als mit Musikern. Als kleines unabhängiges Label hatte ich es nicht leicht. Obwohl ich arbeitete wie ein Hund, wurden mir nach und nach viele meiner Künstler von den großen, zahlungskräftigen US-Labels abgeworben. Buena Vista Social Club wurde inzwischen von Ry Cooder produziert. Am Erfolg von Wim Wenders' Verfilmung konnte ich also nicht mehr teilhaben.

Ich versuchte mich vorübergehend im Reggae, aber das war eine völlige Fehlinvestition - und brach mir das Genick. 2000 folgte der totale Untergang. Ich stemmte mich gegen das finanzielle Fiasko, kämpfte und kämpfte. Dabei hätte ich einfach einen sauberen Konkurs hinlegen sollen. Zum Schluss hat nur noch die Hand aus dem Wasser geschaut und gewunken. Auch die Erbschaft meiner Eltern half mir zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

Ich hatte alles verloren, die Freundin, die Wohnung: Wenn schon Absturz, dann richtig. Ich war am Boden. Armut macht einsam, Freunde hatte ich zu diesem Zeitpunkt kaum noch welche. Oder besser: Ich hatte mehr Freunde in New York als in Frankfurt am Main. Ich saß den ganzen Tag im Bethmannpark und beobachtete die Raben. Sechs Jahre lang. Ich war einfach ratlos. Mit Musik wollte ich nichts mehr zu tun haben, zu groß war die Enttäuschung.

Angst und Albträume

Nach der Pleite hatte ich Angst, litt unter Albträumen und dem Gefühl, ich schaffe es nicht. Ich wusste nicht, wie es weitergeht, aber es musste ja weitergehen. Ich wollte nicht einfach Schluss machen, dafür schmeckte mir der Wein zu gut und die Frauen gefielen mir zu sehr. Außerdem: Im Vergleich zu dem, was meine Eltern in der Kriegszeit erleben mussten, war das doch alles ein Witz. Mag sein, dass die alle traumatisiert waren, aber sie sind wieder aufgestanden.

Wirklich geholfen hat mir dann die Stadt Frankfurt am Main. Ich bekam Sozialhilfe, eine Sozialwohnung. Ich wollte etwas zurückgeben. Ich betreute als Ein-Euro-Jobber Jugendliche, arbeitete in einer Kleiderkammer. Zeitweise hatte ich nur 300 Mark im Monat zur Verfügung, doch ich wollte meiner damaligen Freundin etwas bieten!

An einem Oktoberabend im Jahre 2005 traten die beiden berühmten Jazz-Pianisten Gonzalo Rubalcaba und Chick Corea in Frankfurt auf. Gonzalo hatte ich zehn Jahre zuvor auf Kuba entdeckt, wir kannten uns. Doch die 32 Euro Eintritt für das Konzert hatte ich nicht. Trotzdem bin ich hin, weil ich dachte, dass wir schon irgendwie reinkommen. Doch keine Chance - was für eine Blamage. Ich kannte niemanden mehr. Da fiel mir erstmals auf, wie notwendig Geld ist - auch, um am kulturellen Leben teilhaben zu können. Verhungern kannst du nicht in Deutschland, aber dafür im Hirn verdursten. Als ich im Nieselregen vor der Oper stand, kam mir plötzlich die Idee: Kultur für alle.

Ich merkte schnell, dass ich nicht allein war: An die 80 000 Menschen lebten in Frankfurt von Stütze, abgekoppelt von jeglicher Kultur in der Stadt. Das wollte ich ändern. Mein Kulturbegriff ist übrigens weit: Kultur ist alles, was der Mensch gestaltend schafft. Nur: Ich hatte weder ein Telefon, noch einen Computer oder Kopierer. Trotzdem klapperte ich die Veranstalter ab, von der Oper über Wohlfahrtsverbände bis zu Kulturveranstaltern. Ich wollte wissen, ob das überhaupt machbar ist: ein Kulturpass für Bedürftige, der es Bedürftigen ermöglicht, für einen Euro ins Konzert, Theater oder Museum zu gehen.

Nicht erniedrigen, sondern erhöhen

Ein Bekannter aus einer Werbeagentur kam auf die Idee, einen speziellen Pass herzustellen und an die Leute auszugeben. Das kam mir entgegen, denn auch ich wollte nie Almosen annehmen, nichts Geschenktes. Die Menschen sollten nicht erniedrigt, sondern erhöht werden. Man kann das nur schwer jemanden erklären, der das nicht selbst mitgemacht hat.

Viele halfen mir, ohne dass ich dafür Geld bezahlen musste. Ich durfte im Frankfurter Arbeitslosenzentrum umsonst telefonieren, ein befreundeter Drucker druckte mir die ersten 20 000 Flyer, die ich überall in der Stadt verteilte. Ich fand eine Firma, die mir die Homepage zunächst umsonst erstellte. 2008 gründete ich schließlich den Verein 'Kultur für ALLE', der inzwischen mehr als 11 000 Bedürftigen einen bezahlbaren Zugang zur Kultur ermöglicht. Aktiv nutzen den Pass etwa 4500 Personen. Das Projekt wurde vielfach ausgezeichnet, darunter von der Kanzlerin, dem Bundespräsidenten und der Robert Bosch Stiftung.

Dieser Pass sollte ein Gesamtkunstwerk werden, die Vorderseite mit einem Bild von Marc Chagall bedruckt. Einen Euro sollte er kosten, 50 Cent für Kinder. Auf keinen Fall sollte er gratis sein, denn auch Kultur kostet ja was.

Als Erstes bekam ich auf einen Schlag 100 Karten für die Buchmesse, 50 für ein Konzert von Udo Lindenberg und noch mal 300 für zehn Konzerte der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker in der Frankfurter Alten Oper. Offiziell hätten die Lindenberg-Karten 60 Euro gekostet, wir gaben sie für 59 Euro weniger her. Binnen einer Woche rannten mir 500 Leute die Bude ein. Heute sind mehr als 200 Kulturinstitutionen mit dabei, darunter die städtischen Museen und die Alte Oper.

Anfangs war das in Deutschland einzigartig und wegweisend. Es ist mir recht, dass inzwischen andere Städte und Initiativen mein Modell kopieren. Ich verdiene nichts daran, lebe bis heute von Hartz IV. Manchmal bekomme ich eine Aufwandsentschädigung, wenn der Verein mal Geld hat. Es reicht, ich bin damit zufrieden. Bis heute bekommen wir keine Förderung von der Stadt, das ist reines Bürgerengagement.

Mein Traum ist, dass sich unser Pass noch weiter national und vielleicht auch international ausbreitet. Ab Herbst wird er erst einmal in ganz Hessen gültig sein."

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Götz Wörner, 56, lebt in Frankfurt am Main und ist Ansprechpartner für "Kultur für ALLE e. V."

Überleben

Wir veröffentlichen an dieser Stelle in loser Folge Gesprächsprotokolle unter dem Label "ÜberLeben". Sie handeln von Brüchen, Schicksalen, tiefen Erlebnissen. Menschen erzählen von einschneidenden Erlebnissen. Wieso brechen die einen zusammen, während andere mit schweren Problemen klarkommen? Wie geht Überlebenskunst? Alle Geschichten finden Sie hier. Wenn Sie selbst Ihre erzählen wollen, dann schreiben Sie eine E-Mail an: ueberleben@sz.de

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