Kolumne: Vor Gericht:Die verdrängte Schwangerschaft

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(Foto: IMAGO/CalilusBricolage/Pond5 Images)

Frauen, die ihr Neugeborenes töten, befinden sich meistens in einer psychischen Ausnahmesituation. Warum aber unternimmt ihr Umfeld oft nichts?

Von Verena Mayer

Es kommt leider gar nicht so sehr selten vor, dass Frauen auf der Anklagebank sitzen, weil sie ihr Kind getötet haben. Die meisten Taten passieren unmittelbar nach der Geburt. Ich habe mehrere solcher Fälle vor Gericht verfolgt, jeder war auf seine Art tragisch. Da war die Abiturientin, die plötzlich Wehen bekam, das Baby in ihrem Kinderzimmer gebar und es erstickte. Da war die Frau Anfang vierzig, die schon acht Kinder hatte, dann noch einen Sohn bekam und diesen nach der Geburt im Keller tötete. Und da war der Fall einer 39-Jährigen, der über Deutschland hinaus Schlagzeilen machte: Die Frau brachte neun Kinder auf die Welt, tötete jedes dieser Kinder nach der Geburt und vergrub sie in Blumentöpfen auf ihrem Balkon.

Alle Fälle hatten etwas gemeinsam: Den Tötungen waren verdrängte Schwangerschaften vorausgegangen. Auch das passiert gar nicht so selten, wie mir eine Gerichtspsychiaterin einmal erzählt hat. Manche Frauen bemerken nicht, dass sie schwanger sind, oder wollen es nicht wahrhaben. Und dann verleugnen sie alles, was mit ihrem Körper zu tun hat. So lange, bis die Wehen einsetzen. Diese Frauen kommen nicht auf die Idee, das Baby anonym im Krankenhaus zu gebären oder eine Babyklappe aufzusuchen. In der Ausnahmesituation, in der sie seien, könnten sie, so die Expertin, nur mehr daran denken, wie sie „das Problem irgendwie loswerden“.

Und noch etwas haben die meisten Fälle gemeinsam. Die Frauen leben nicht allein auf der Welt. Nicht wenige der Angeklagten waren bereits Mütter, die Frau mit den neun verdrängten Schwangerschaften etwa. Sie hat drei Kinder und lebte mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung in Ostdeutschland. Im Prozess wurden die Abgründe dieses Lebens ausgeleuchtet. Die Angeklagte war hochintelligent, ihr Vater ließ sie aber nicht studieren. Sie fügte sich, so wie sie sich allem fügte, der Gutachter sprach von einem „fast masochistischen Verharrungsverhalten“. Mit 17 wurde sie das erste Mal schwanger, mit 20 hatte sie einen Mann und drei Kinder, vor Gericht wurde sie als liebevolle Mutter beschrieben. Ihr Mann wollte keine weiteren Kinder mehr, und so verheimlichte sie neun Schwangerschaften vor ihm, um den Familienfrieden nicht zu gefährden. Die Babys brachte sie im Wohn-, Schlaf- oder Kinderzimmer zur Welt.

Am Ende des Prozesses war klar, dass die Frau in einer schweren Konfliktlage gehandelt hatte, sie wurde wegen Totschlags zu 15 Jahren Haft verurteilt. Aber eine Frage blieb offen, bleibt in den meisten Fällen offen: Was ist mit dem Umfeld? Warum spricht niemand das Offensichtliche aus, das diese Frauen nicht wahrhaben wollen? Und vor allem: Welche Rolle spielen die Männer bei alledem? Der Mann der Frau, die neun Babys tötete, lebte nicht nur auf engstem Raum mit ihr zusammen. Er war auch gewissermaßen von Berufs wegen gewohnt, die kleinsten Dinge wahrzunehmen – er hatte vor der Wende bei der Stasi gearbeitet. Vor Gericht berief er sich wie so viele Angehörige auf sein Aussageverweigerungsrecht. Die Männer sind die große Leerstelle, wenn es um verdrängte Schwangerschaften und Neugeborenentötungen geht.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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