Kolumne:Männer aktuell, heute: Guillaume

Kolumne: Die Begegnung mit dem Geiger Guillaume wird unsere Autorin nie mehr vergessen.

Die Begegnung mit dem Geiger Guillaume wird unsere Autorin nie mehr vergessen.

(Foto: Illustration Jessy Asmus)

Er ist Violinist, er tritt in einem Trio vor 1270 Zuhörern auf, er ist sehr begabt und sehr höflich. Und trotzdem wird die Zeit mit ihm allein auf der Bühne zur peinlichsten Viertelstunde im Leben einer Noten-Umblätterin.

Von Johanna Adorján

Diese Geschichte spielt im Münchner Herkulessaal, in dem ich mir während des Studiums manchmal etwas Geld mit Umblättern verdiente. An jenem Abend, um den es hier geht, trat ein junges Klaviertrio aus Frankreich auf. Ich lernte die Musiker immer erst kurz vor Konzertbeginn kennen, im Künstlerzimmer hinter der Bühne, wo die Stimmung in diesen Minuten war, als wäre jemand gestorben. Alle ganz still, in sich versunken, trafen sich versehentlich Blicke, nickte man sich tröstlich zu.

Während der Konzerte saß ich links vom Pianisten auf einem eigenen Stuhl, las die Noten mit, und die Aufgabe bestand darin, im exakt richtigen Augenblick aufzustehen und umzublättern, ja nicht zu spät, das wäre fatal, auf keinen Fall jedoch zu früh, das wäre eine Katastrophe, und bloß nicht versehentlich zwei Seiten auf einmal erwischend. Dann wieder hinsetzen und sich so unauffällig wie möglich verhalten, bis der Pianist in den Noten wieder auf der rechten Seite unten angekommen war.

Das erste Stück war einwandfrei gelaufen, das Trio sehr gut, das Publikum entzückt. Von hinten hörte man durch die Bühnentür den Applaus im Saal langsam abebben. Ich wusste nicht, was als Nächstes auf dem Programm stand, blätterte immer, was halt gerade auf dem Notenpult stand. Bis auf vereinzelte Huster Ruhe im Saal jetzt, der Ordner zog die Tür auf. Der Geiger, Guillaume, ging zuerst hinaus. Ich weiß noch, dass ich es nett fand, dass der Pianist mir den Vortritt ließ. Möglicherweise dachte ich, während ich über die Bühne auf meinen Platz zuschritt, dass Franzosen schon galanter sind als Deutsche. Und ob ich nicht vielleicht doch noch mitgehen sollte, nach dem Konzert ins Opatija.

Ausverkaufter Saal. 1270 Augenpaare ruhten auf mir. Ich wollte sterben vor Scham

Ich setzte mich wieder auf meinen Platz. Der Geiger stimmte leise sein Instrument. Kurz sah er zu mir. Ich lächelte, die Hände im Schoß gefaltet. Dann dachte ich, dass es komisch war, dass der Pianist so lange auf sich warten ließ. Ich drehte mich um, immer noch lächelnd, und in meiner Erinnerung wird genau an dieser Stelle das Saallicht dunkler, und mein Herz setzt kurz aus: Die Bühnentür ist zu.

Ich höre Guillaume einatmen. Mein Herz schlägt weiter, jetzt doppelt so schnell wie normal. Die ersten Takte der Violin-Solosonate No. 1 in g-Moll von Bach erklingen. Solo-Sonate. Nur für Geige. Ich bin völlig sinnlos auf der Bühne. Sitze ohne Aufgabe im Licht der Scheinwerfer auf einem Extrastuhl neben dem Flügel im ausverkauften Herkulessaal. 1270 Menschen sehen mich hinter einem Geiger sitzen, der eine Solosonate spielt. 15 Minuten dauerten Stunden. Nach dem ersten Satz kam der zweite, danach der dritte. Die ganze Zeit über hielt ich den Blick fest auf den goldenen Steinway & Sons-Schriftzug schräg vor mir gerichtet in der verzweifelten Hoffnung, wenn ich niemanden ansähe, sähe auch niemand zu mir. Meine Backen brannten. Ich war außer mir vor Peinlichkeit.

Zweimal dachte ich, das Stück sei fertig, aber Guillaume hatte nur eine sensible Pause gesetzt. Ich verfluchte ihn und den Pianisten und auch den Cellisten, den Ordner, warum hatte denn keiner etwas gesagt?

Als der letzte Ton gespielt war, hörte Guillaume ihm noch ewig nach, bis sein Schall für immer verhallt und von dieser Welt verschwunden war. Applaus setzte ein, und wir standen auf.

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