"Ach, wie schön", seufzen die Damen auf dem Gehsteig gegenüber der Kirche. Vor dieser stehen mindestens 50 aufgeregte Kinder und schwenken mehr oder weniger selbst gebastelte Laternen. Umringt sind sie von nochmal so vielen Müttern und Vätern mit Feuerzeugen und Streichhölzern in der Hand, mittendrin der Pfarrer und einige Erzieherinnen der nahen Kindergärten.
"Mei, und jetzt singen sie auch noch, die Kleinen", freuen sich die Damen und bleiben noch ein bisschen länger stehen. Der Anblick ist zu romantisch, um einfach weiterzugehen.
Ich geh mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.
Dort oben leuchten die Sterne, und unten leuchten wir.
Ein Lichtermeer zu Martins Ehr,
rabimmel-rabammel-rabum
"BUM, BUM!", schreien die Grundschul-Kinder. "Mit unserem gemeinsamen Umzug wollen wir den Heiligen Martin ehren", erinnert der Pfarrer die Menge vor der Kirche daran, dass Halloween vorbei und ein Laternenumzug eine ernste Angelegenheit ist.
"BUM, BUM", schreien die Kindergarten-Kinder.
"FEUER!", schreit eine Mutter. Ein Vater tritt die erste Laterne des Abends aus. Ein anderer murmelt: "Ich würde mich freuen, wenn unsere brennt."
Laternenlicht, verlösch mir nicht!
rabimmel-rabammel-rabum
Der Vater zündet zum sechsten Mal die Kerze in der engen Röhre der Laterne an. Der stete Nieselregen macht die Sache nicht leichter, die steife Brise noch weniger. Neidisch blickt er zur Nachbarfamilie. Die hat ein gasgefülltes Stabfeuerzeug, natürlich. "Oh, ist die Kerze wieder aus?", wird dort gesäuselt, "das macht nichts, ich zünde sie dir gleich wieder an, mein Herzchen."
Der Vater knirscht mit den Zähnen und sagt zu seinem Vierjährigen: "Schwenk die Laterne nicht so. Wenn sie nochmal ausgeht, bevor wir loslaufen, drehe ich durch!" Keine schöne Aussichten, findet der Vierjährige, und stellt seine Laterne vorsichtshalber ab. Der Boden ist nass, die Laterne aus Papier.
Der Zug setzt sich in Bewegung, endlich. Der Vierjährige nimmt die Laterne auf. Die Kerze bleibt mit dem durchweichten Papier am Boden stehen. Immerhin brennt sie noch.
Laterne, Laterne, Sonne, Mond und Sterne,
sperrt ihn ein, den Wind,
sperrt ihn ein, den Wind,
er soll warten, bis wir zu Hause sind.
Doch der Wind lässt sich nicht wegsingen, und keine höhere Macht hat ein Einsehen. Der Gasvorrat im Stabfeuerzeug der Nachbarfamilie ist zur Neige gegangen ("Herzchen, du musst nicht weinen, weil das Lichtlein nicht mehr brennt. Herzchen! Man hört gar nichts mehr von den schönen Martinsliedern. Herzchen!!").
Der Umzug zieht sich mittlerweile über zwei Straßenzüge. Alle paar Meter bleiben Eltern und Kinder stehen, man hört das Klicken von Feuerzeugen und unterdrückte Flüche, wenn sich wieder jemand die Finger versengt. "Aber nicht meine Laterne anzünden", sorgen sich die Kinder.
Wir zieh'n in langen Reih'n
Bei dem Laternenschein
Die Straßen hin und her
Und freu'n uns alle sehr.
Das Pferd von Sankt Martin freut sich nicht. Es wäre gerne woanders und tänzelt nach rechts, wenn es nach links soll. Geht rückwärts, wenn alle vorwärts marschieren.
Nur wenn es beim nächsten Martinslied-Halt andächtig stehen soll, schreitet es zügig weiter. Sankt Martin - eine verkleidete Martina, wie einige Kleingeister kritisieren - verzweifelt auf dem Pferderücken. Früher war alles besser, da hörten die Pferde noch auf ihre Reiter.
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin
zieht die Zügel an,
sein Ross steht still
beim braven Mann.
"Soll sich mal ein Vorbild nehmen, der Gaul", knurrt eine Mutter und zieht ihre widerstrebende Tochter hinter dem nervösen Tier weg. Die Tochter packt im letzten Moment beherzt ein paar Schweifhaare. Ihre Laterne heizt dem Pferd ein. Das pfeift auf den Herdentrieb, folgt seinem Fluchtinstinkt und ist dann mal weg. Mit ihm entschwindet Martin(a), der rote, ungeteilte Mantel flattert zum letzten Gruß im Wind.
Schweigen. Augen füllen sich mit Tränen. Die ersten Kinder rennen los, umkurven Erzieherinnen, die sich ihnen in den Weg werfen, tauchen unter zugreifenden Elternhänden durch. Laternenlichter verglühen oder ertrinken im überschwappenden heißen Wachs.
Ein Messdiener bleibt allein zurück und setzt mit dünner Stimme zur nächsten Strophe an:
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin
ritt durch Schnee und Wind,
sein Ross, das trug ihn fort geschwind.
Die Eltern holen ihre Kinder kurz vor dem Park ein. Außer Atem versammeln sich die Jungen und Mädchen vor einem Busch, dort knabbert das Pferd an den letzten Herbstblättern. Martin(a) sitzt obenauf und ist peinlich berührt. Ein Teil des roten Mantels hat sich im Busch verfangen. "Friert der Busch auch?", flüstert ein Junge.
Die erschöpften Eltern nehmen ihre Kinder an die Hand, holen ein letztes Mal tief Luft und singen:
Mein Licht ist aus, ich geh nach Haus,
rabimmel-rabammel-rabum.
"Bum, bum", flüstern die Kinder. Auf der anderen Straßenseite stehen zwei Damen und winken fröhlich herüber.
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