Auch die Familie nebenan profitiert von der unstillbaren Kreativität ihres Nachwuchses: Sie muss keinen Gedanken daran verschwenden, ob die Zimmer einen neuen Anstrich benötigen. Denn von den Wänden ist nichts zu sehen - ihre Tochter will Malerin werden, "eine berühmte!". Bis es so weit ist und das MoMA in New York ein paar Tausend Quadratmeter Fläche für sie freiräumt, nutzt die Nachwuchskünstlerin das Zuhause als Galerie.
"Ihr habt doch gesagt, dass euch meine Bilder gefallen", hält die Tochter den Eltern entgegen, wenn sie diese zwar nicht in ihrem Schaffens-, aber doch ein wenig in ihrem Ausstellungsdrang bremsen wollen.
Kommt Besuch, präsentiert das Kind stolz seine künstlerische Entwicklung bei einem Gang durch die Wohnung, angefangen im Flur (die Blaue-Kopffüßler-Phase) bis hin zur Sofaecke (die Rosa-Feen-Phase). Die Meinung der Ausstellungsbesucher ist geteilt: Die Großeltern sind begeistert, die Tante hingegen stellt fest: "Ich könnte so nicht wohnen."
Die Tochter ist verletzt, ihre Eltern bereit zur Verteidigung von Kind, Erziehungs- und Wohnstil, da grätscht die Großmutter ein: "Kein Wunder, dass es dir nicht gefällt. Du hattest ja schon früher keinen Sinn für Kunst." Die Tante, nun ebenfalls gekränkt, verstummt. Sie denkt an ihre Mitleidsnote Vier im schulischen Kunstunterricht. Doch sie wird es den Großeltern zeigen, der Tag ist nicht mehr fern.
Noch ist der Sohn der Tante zu klein, aber von Freunden weiß sie, dass von einem gewissen Alter an ein steter Strom an selbstgebastelten Werken aus den Kindergärten einsetzt. Einen Anlass gibt es immer: Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, Weihnachten, Fasching, Ostern, Wir-lernen-Schneiden, Wir-lernen-Falten, Wir-lernen-Wattebäusche-auf-buntes-Papier-zu-kleben.
Alle diese Gaben will die Tante dann mit herzlichen Grüßen an die ach so kunstsinnigen Großeltern weitergeben! Und während ihr Sohn seine künftigen Gemälde gerne bei sich im Zimmer aufhängen darf ("da sehe ich es ja auch"), würde sie sich entspannt in die moderne Leere ihres Wohnzimmers zurücklehnen.
Nur eines macht ihr Sorgen: Ihr Sohn hat gestern beim Spazierengehen einen Stock entdeckt. Und ihn unter Aufbietung all seiner Kleinkindkräfte mit nach Hause geschleift. Dort hat er mit Hilfe seiner Kleinkind-Stimmgewalt durchgesetzt, dass der Stock in die Wohnung durfte. Wahre Schätze lässt man schließlich nicht einfach vor der Haustür herumliegen. Und wer weiß, wozu man so einen Stock einmal braucht?
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