Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Ihr seid so peinlich!

Familien-Kolumne

Familienfotos? Einfach peinlich!

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Mit der Pubertät nabeln sich Kinder von den Eltern ab. Leider beginnt diese nicht nur viel früher als gedacht, sondern auch sehr plötzlich. Statt Helden zum Anlehnen sind Eltern nur noch uncool - und peinlich sowieso.

Von Katja Schnitzler

Es begann mit einem Kuss. Einem liebevollen Bussi auf die Wange. Die neunjährige Tochter hatte gerade mit ihrer Hip-Hop-Tanzgruppe eine bravouröse Vorstellung gegeben. Kein Kind hatte sich dabei die Arme verknotet oder die Hüfte verrenkt, und fast niemand war aus dem sehr schnellen Takt geraten. Da war ein überschwängliches Lob mehr als angebracht, fand die begeisterte Mutter. Voller Euphorie drückte sie der Tochter einen Schmatz auf die Backe.

Sonst hatte diese Kombination aus Lob und Kuss das Kindergesicht stets erstrahlen lassen, ja, es von innen heraus vor Stolz und Glück leuchtet. Heute nicht. Diesmal bewölkte, ach was: verfinsterte sich das Gesicht der Tochter. Sie zerrte die Mutter am Ärmel zu sich hinunter und zischte: "Wehe, du küsst mich noch einmal vor allen, vor ALLEN!" Wütend stapfte sie zu ihren vorpubertären Freundinnen. Obwohl, dachte die Mutter, vielleicht musste sie diese Vorsilbe ja streichen. Sie schauderte.

Ihre Cousine, als Lehrerin ganz nah an der Altersgruppe, hatte sie gewarnt: Die Pubertät fange immer früher an. "Und ist dann eher vorbei?", hatte die Mutter hoffnungsvoll gefragt. Nein, sie dauere noch länger.

"Aber muss das denn schon mit neun Jahren losgehen?", fragte die Mutter ihren Mann in der Zweisamkeit des späten Abends. "Tröste dich, Liebling, dann küsst du eben mich öfter", sagte er und reckte ihr grinsend seine Wange entgegen. Sie strich mit den Fingern darüber: "Schatz, du kratzt!"

Dem Vater verging das Grinsen am nächsten Morgen. Es schüttete in Strömen - ein Wetter, bei dem jeder Hund mit dem Gedanken spielt, das Katzenklo zu benutzen. Der Vater hatte Erbarmen und fuhr seine Tochter zur Schule. Er hoffte auf einen Parkplatz möglichst nah an der Schultür, doch diese Hoffnung hatte sich schon für die Fahrer von zwanzig anderen Kindern erfüllt. Er stellte sein Auto etwas weiter entfernt ab, es schüttete noch immer. Der Vater schnallte sich ab. "Du musst nicht mit zur Tür kommen", sagte die Tochter hastig.

"Ich halte dir den Schirm, sonst wirst du ja doch noch nass bis auf die Haut", sagte der Vater. "Ach, das kurze Stück ist nicht so schlimm", sagte die Tochter. "Mir macht es nichts aus", sagte der Vater. "Aber mir", sagte die Tochter.

Am späten Abend berichtete der Vater seiner Frau: "Du bist wenigstens nur peinlich, wenn du auf die Wange küsst. Aber ich, ich bin offenbar ganz und gar untragbar! Nächstes Mal muss ich wahrscheinlich zwei Straßen weiter weg parken, um überhaupt nicht mehr gesehen zu werden." "Wir sind nicht cool genug für unsere Tochter", klagte die Mutter. "Soll ich doch Motorradfahren lernen?", sinnierte der Vater. "Vergiss es, aus dem Alter bist du raus", sagte die Mutter schnell, die insgeheim fand, dass Motorräder auch für 20-Jährige viel zu gefährlich sind.

Das war nicht das, was der Vater hören wollte. Den Rest des Abends hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Der Vater sah sich auf der Harley lässig vor der Schule einschwenken, während seine Tochter begeistert rief: "Da kommt mein Dad!" Die Mutter überlegte, mit wohlplatzierten Futterdosen die verschmuste Nachbarskatze enger an sich zu binden, die kuschelte gerne und war so gut wie nie kratzbürstig.

Ihre Tochter hingegen hatte vorher sogar den Gute-Nacht-Kuss verweigert, obwohl kein Zuschauer weit und breit war: "Mama, ich bin doch kein Baby mehr!" Aber ich, ich bin noch nicht so weit, hätte die Mutter gerne geantwortet. Und: Du bist doch noch in der Grundschule!

Die nächste Zeit war hart, überall standen Fettnäpfchen herum: "Mama, wehe du heulst bei der Erstkommunion vor Rührung, das wäre so peinlich!"

"Papa, schnaufst du bitte leiser beim Joggen? Und könntest du nicht mal eine andere Strecke laufen? Durch den Wald statt durch den Park, dann lachen nur die Rehe!"

"Mama, dein Arm!" "Was ist damit?" "Er liegt auf meiner Schulter!"

"Und Mama, hör auf, dich so an die Nachbarskatze ranzuwanzen. Überall stehen Futterdosen, peinlich!"

"Papa, willst du auf diesem Motorrad etwa fahren? Auf der Straße?"

"Du bist doch erst neun!"

Nur, wenn die Tochter sehr, sehr müde war vor dem Zubettgehen, dann kuschelte sie sich beim Vorlesen wieder an die mütterliche oder väterliche Seite, sodass den Eltern ganz warm wurde. Da lasen sie gerne ein wenig länger vor, denn der nächste Morgen graute bestimmt. Dann hieß es wieder, und das sehr bestimmt: Bitte Abstand halten!

Eines Abends stand die Nachbarin vor der Tür, ihre schnurrende Katze auf dem Arm: Sie habe die Mutter zufällig heute gesehen, mit ein paar Kartons Katzenfutter, die sie doch hoffentlich nicht an ihre schon verfettende Katze verfüttern wolle? Was sie sich eigentlich dabei denke?

"Ich brauche die Nähe!", schluchzte die Mutter und brach ein wenig zusammen: diese ständige Distanz, diese Ablehnung, das war einfach zu viel, und das Kind war doch erst neun, NEUN! Die Nachbarin reichte ihr erst ein Taschentuch und dann die Katze, zum Trost.

Außerdem, berichtete die Nachbarin, habe sie heute noch etwas beobachtet: Die Mutter war nachmittags vom Einkaufen zurückgekommen und hatte das Auto am Ende des Wohnwegs geparkt. "Deine Mutter ist wieder da", hatte die Nachbarin die Tochter informiert.

Da habe die Tochter gejauchzt, "Die Mama!", und sei mit Riesensprüngen den Wohnweg entlanggerannt. Dann sei sie Sprung für Sprung für Sprung verhaltener geworden, als ihr offensichtlich bewusst wurde: Was ich da mache, ist nicht lässig. Es ist uncool. Wahrscheinlich sogar peinlich. Vor der Straße habe die Tochter eine Vollbremsung gemacht, gerade noch rechtzeitig, bevor die Mutter ihre Katzenfutterbeute aus dem Kofferraum hievte. Langsam war ihr die Tochter entgegengeschlurft und hatte gemurmelt, offensiv gelangweilt: "Hey, Mama."

Als die Nachbarin gegangen war, schlich sich die Mutter zur schlafenden Tochter und hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange.

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