Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Geister der Nacht

Familien-Kolumne

Diese Eltern schlafen entspannt, denn noch ist ihr Nachwuchs zu jung, um nachts allein unterwegs zu sein.

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Gehen Kinder das erste Mal nachts allein aus, zerrt das an den Nerven der Eltern. Dabei haben sie es früher selbst krachen lassen. Genau das ist ja das Problem.

Von Katja Schnitzler

Es war schon eine halbe Stunde her, dass die Tochter losgezogen war. Nicht allein, das hätte die Mutter nicht zugelassen. Allerdings war sie nicht sicher, ob sich die Tochter in bester Gesellschaft befand bei ihrer ersten langen Nacht dort draußen. Ohne Eltern, ganz auf sich gestellt. Sie tanzte zwar nicht durch die Klubs der Stadt, in denen K.O.-Tropfen-träufelnde Bösewichte lauerten, sondern war im Jugendheim des Pfarrzentrums. Das beruhigte die Mutter, aber nur ein bisschen. 20 Uhr, noch vier Stunden bis zur Cinderella-Stunde punkt Mitternacht ("Und keine Minute länger!").

"Sie ist alt genug und ein verantwortungsbewusstes Mädchen, ich vertraue ihr, vertraue ihr, vertraue ...", versuchte die Mutter ein Beruhigungs-Mantra, während sie zum achten Mal prüfte, ob sie nicht doch versehentlich den Ton ihres Smartphones abgestellt hatte.

Das Beruhigungs-Mantra wurde von einem unangenehmen Gedanken unterbrochen, "... ich vertraue ihr, ich vertraue ihr - aber den anderen nicht!"

20.10 Uhr. So würde die Mutter bis Mitternacht durchdrehen. Sie blätterte durch die Zeitung ("Versuchte Vergewaltigung vor der Diskothek, Polizei fahndet nach dem Täter"), sie schaltete den Fernseher ein ("Teenie-Mütter - So jung schon schwanger"). Ihr Buch nahm sie gar nicht erst zur Hand ("Kommissar Sommer im Wettlauf gegen die Zeit: Fasst er den grausamen Mädchen-Entführer, bevor es für sein letztes Opfer zu spät ist?").

20.33 Uhr, keine Nachricht auf dem Handy, auch keine Mail. Sollte sie selbst vielleicht eine kurze SMS schicken, nur eine ganz kurze? Sie tippte Hast Du Spaß? ein, dann löschte sie die Nachricht wieder. "Du rufst heute Abend aber nicht dauernd an, Mama, das ist so peinlich!", hatte die Tochter gesagt. Die Mutter wollte nicht peinlich sein, zumindest noch nicht so früh am Abend. Dann also Rotwein, zur Entspannung.

21.24 Uhr, die Mutter schenkte sich das dritte Glas ein. Sie hatte Entspannungsmusik aufgelegt, sich auf der Couch zurückgelehnt und machte Atemübungen: "Ich atme in meinen rechten Arm, er wird schwer, immer schwerer. Jetzt atme ich in den linken Arm, er wird schwer und immer schwerer. Auch die Beine werden schwer."

"Du hast es wirklich schwer heute Nacht", sagte eine Stimme neben ihr. Hätte die Mutter das Rotweinglas noch in der Hand gehalten, hätte sie sehr viel Salz benötigt. Sie riss die Augen auf. Offensichtlich stand sie neben sich, und das gleich dreimal. Ihr Mund klappte nach unten.

Vor ihr hatten sich drei durchscheinende Gestalten aufgebaut, alle wiesen eine entfernte Ähnlichkeit mit der Mutter auf. Diese japste nach Luft.

Die erste Gestalt - faltiges Gesicht und Lesebrille - nutzte die Sprachlosigkeit, um sich vorzustellen: "Fürchte Dich nicht! Wir sind Du, und Du bist wir." Die Mutter schüttelte verwirrt den Kopf. "Lass mich mal", drängte sich die zweite Gestalt mit auftoupierten Haaren vor, bekleidet mit Jackett mit Schulterpolstern: "Ich bin dein Geist der Jugend."

"Du Gruftie!"

Die dritte Gestalt trat näher: "Ich bin dein Geist der mittleren Jahre." Sie trug auf der einen Seite des Körpers einen Businessanzug mit Pumps, auf der anderen Jeans und Turnschuhe, von denen Spielplatzsand bröselte. "Und ich", sagte die betagte Gestalt würdevoll, "bin dein Geist der Zukunft." "Auch bekannt als Gruftie", warf der Geist der Jugend ein. "Das sagt doch heutzutage niemand mehr", rügte der Geist der mittleren Jahre. "Die Jugend, kein Respekt vor dem Alter", beschwerte sich der Geist der Zukunft.

"Was wollt ihr hier? Und von mir?", unterbrach die Mutter. Die drei Geister wandten sich wieder ihr zu. "Wir wollen diese erste Nacht der Angst gemeinsam mit dir durchstehen!" "Sehr beruhigend", sagte die Mutter.

"Weißt du noch, wie du früher um die Häuser gezogen bist?", sagte der Geist der Jugend, warf sich in den Sessel und legte die Füße auf den Tisch. "Natürlich. Das ist ja das Problem", sagte die Mutter seufzend.

"Weißt du noch, damals ...?"

Der Geist der Jugend grinste sie an: "Deine Mama hat immer gedacht, im Pfadfinderheim wärst du gut aufgehoben. Dabei fanden dort die wildesten Partys statt. Und weißt du noch, wie sie sich gefreut hat, dass da gemeinsam Plätzchen gebacken wurden. Und wie nervös du wurdest, als sie unbedingt einen probieren wollte? Dabei waren das Hasch-Kekse!"

"Hör gar nicht hin", sagte der Geist der mittleren Jahre und versuchte, der Mutter die Ohren zuzuhalten. "Lass sie in Ruhe", sagte der Geist der Zukunft streng. "Sie hätte ruhig noch etwas wilder feiern können, dann hätte ich im Alter mehr zu erzählen!"

"Irgendwie seid ihr keine gute Ablenkung", sagte die Mutter.

"Ja, das Pfadfinderheim ...", schwelgte der Geist der Jugend weiter, "den ersten Vollrausch hattest du da auch. Hinterher wusstest du nicht einmalt mehr, ob Reiner weiter vorgedrungen war als nur bis unter dein T-Shirt. Ausgerechnet Reiner!" Die Geister der Jugend und der Zukunft kicherten, der Geist der mittleren Jahre schnaubte genervt.

"Könntet ihr bitte wieder verschwinden?", bat die Mutter.

"Aber wir sind doch gerade erst gekommen!", entrüstete sich der Geist der Zukunft. "Ich wollte noch deine Erziehungsfehler in den Anfangsjahren mit dir durchsprechen", sagte der Geist der mittleren Jahre enttäuscht. "Und ich habe noch gar nicht die Geschichte von dem Silvesterfest erzählt, als du ...", sagte der Geist der Jugend.

"HAUT AB!", schrie die Mutter. Eine Hand packte sie an der Schulter. "LASST MICH!", kreischte sie.

"Mama? Mama, ich bin es, beruhige dich doch. Mama, alles klar?" Die Tochter rüttelte die Mutter. "Alles in Ordnung mit Ihnen?", fragte ein junger Mann, den sie nicht kannte. Die Mutter schnellte hoch. "Welcher Geist bist du?"

"Mama, das ist Jan. Er hat mich nach Hause gebracht, als du dich nicht auf meine SMS gemeldet hast. Sag mal, bist du betrunken?", sagte die Tochter.

Die Mutter schüttelte den Kopf, bemühte sich um Haltung und sah auf die Uhr. 23.44 Uhr. "Du bist wegen mir früher heimgekommen?", fragte die Mutter. Das übertraf wohl jeden peinlichen Anruf. Sie räusperte sich: "War es wenigstens schön heute Nacht, was habt ihr denn gemacht?"

Die Tochter und Jan warfen sich einen vielsagenden Blick zu: "Nichts Aufregendes. Nur ein paar Kekse gebacken."

Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen und Tipps in den Kommentaren unter der Kolumne.

Auf SZ.de erscheint immer montags die Familienkolumne über das Zusammenleben von Eltern, Kindern und Großeltern, aber auch Tanten und Onkeln, Cousins, Nichten, Neffen - eben allen, die das Familienleben bereichern, erleichtern oder auch ein bisschen komplizierter machen.

Sie können gerne einen Themenvorschlag an die Autorin Katja Schnitzler mailen: Was treibt Sie in Ihrer Familie in den Wahnsinn oder was macht das Leben erst richtig schön?

Und alles zum Thema Erziehung von Babys bis hin zu Jugendlichen finden Sie im Erziehungsratgeber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: