Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Entdeckung der Langsamkeit

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Wenn niemand in der Familie pünktlich an einem anderen Ort sein muss, sind alle entspannt. Also eher selten am Tag. (Foto: Stephanie Wunderlich)

Wie schön, wenn Kinder ihre ersten Schritte machen. Leider bremst das die Geschwindigkeit der Familie extrem. Die Kleinen stoppen für alles Aufregende am Wegesrand - sie finden vieles spannend. Und das viel zu lange.

Von Katja Schnitzler

Mit den ersten Schritten ihres Kindes beginnt für Eltern die Entdeckung der Langsamkeit. Natürlich hatten sie sich gefreut, als es seine ersten ein, zwei Tapser nach vorne machte und so eine neue Welt für sich erschloss. Leider mussten die Eltern aber bald feststellen, dass dies für sie vor allem eines bedeutete: Sie kamen nicht mehr vom Fleck.

Zu Kinderwagen- und Buggy-Zeiten waren sie es noch, die das Tempo bestimmten. Schnellen Schrittes eroberten sie erst mit dem Baby, dann mit dem Krabbelkind ihr Viertel. Und das Nachbarviertel. Und die ganze Stadt. Vorbei.

Das Kind geht nun, hin und her schwankend, eigene Wege. Und das langsam. Sehr langsam. Nicht nur, weil es ständig gegen die Schwerkraft kämpft, und diese oft gewinnt. Mit dem Wechsel vom Krabbel- ins Trippelalter besteht das Kind darauf, sich Zeit zu nehmen, auch für die kleinen Dinge im Leben. Ein schönes Konzept, daran sollten sich die Großen mal ein Vorbild nehmen, sagen glücksforschende So-wird-auch-Ihr-Leben-besser-Experten.

Nur mussten die wohl noch nie rechtzeitig beim Arzt sein. Oder im Kindergarten. Oder mit dem Einkaufen fertig. Oder einfach nur die paar Schritte bis zum Müllcontainer vor Einbruch der Nacht schaffen. Unter solchen Bedingungen, auch als Alltag bekannt, werden Eltern selten von Glücksgefühlen übermannt, wenn das Kleine am Wegesrand etwas entdeckt hat: einen Ameisenhaufen! Mit Ameisenkolonne! Die widerspenstige Insekten zum Bau zerren! Und andere Beute! Und da, noch eine! Und noch eine!

Was für eine wunderbare, naturkundliche Erfahrung, finden die Eltern in den ersten vier Minuten. Nach sechs Minuten werden sie allmählich unruhig. Doch das Kind hat nicht genug, noch lange nicht. In der Ferne nähert sich ein Bus. "Komm, wir müssen los." "Nein, Amei!" (Das Kleinkind neigt noch zu Abkürzungen.) In der Ferne entschwindet der Bus.

Die Eltern beschließen, den zweiten Bus zu erwischen und setzen diesmal auf eine frühzeitige Vorbereitung. Der kleine Schatz solle sich jetzt von den Ameisen verabschieden, denn der nächste Bus komme bestimmt, und zwar bald.

"Nein", sagt das Kind.

Na gut, es dürfe noch eine Minute zuschauen, aber dann gehe es wirklich los. Das Kind ist zufrieden. Bis die Minute um ist.

"NEIN!", schreit das Kind.

Schon gestern hatte das Kind darauf bestanden, so lange im strömenden Regen durch die Pfützen zu stiefeln, bis es der Länge nach hineinfiel. Zu diesem Zeitpunkt war die Mutter längst durchnässt. Und am Tag zuvor hatte es auf keinen Fall im Einkaufswagen sitzen, sondern selbst die unendliche Weite des Supermarkts erobern wollen. An der Kasse tropfte es bereits aus den Tiefkühlpackungen. Jetzt, am Ameisenhaufen, ist die Geduld der Eltern erschöpft, sie selbst sind es auch.

"AMEIIIIII!!!!", protestiert das Kind.

"Ja, mei!", sagen die Eltern, die den Nachmittag lieber mit Freunden statt einem Insektenstaat verbringen wollen. Der Vater schnappt sich das Kind, die Mutter positioniert den Buggy. "Ameiiiiiii! Ameiiiiii! Aaaaaameiiiiii!" Der Bus hat schon fast die Haltestelle erreicht. Das Kind spreizt sich mit Händen und Füßen in den Buggy. Der Vater klemmt sich das Kind unter den Arm und rennt los, doch die rhythmischen Tritte gegen seinen Oberschenkel halten ihn zu sehr auf.

In der Ferne verschwindet der Bus.

Zehn Minuten an der Haltestelle können lang werden, wenn ein nicht zu beruhigendes Kind lautstark "Ameeiiii!" schreit und das Viertel an der Ungerechtigkeit seiner Welt teilhaben lässt. Die Fahrt mit dem Bus ist ebenso lang, schier unendlich. Das finden auch die anderen Fahrgäste.

Die Eltern verlegen das Treffen mit ihren Freunden aus einem Café an den Spielplatz. Von dort müssen sie sich nicht wegbewegen, den ganzen Nachmittag lang.

Währenddessen entdeckt das Kind, dass man Sand nicht nur in Eimer, sondern auch in die eigene Hose schaufeln kann (das anschließende Wickeln war kein Vergnügen, für beide Seiten). Dass andere Kleinkinder, die noch nicht laufen können, keine Chance haben, sich das geklaute Spielzeug wiederzuholen (nur deren Eltern sind leider immer noch schneller). Und dass es den Autoverkehr vom Spielplatzzaun aus wunderbar im Blick hat. So viele Autos! Und noch eins! Und da, unglaublich, ein Lastwagen! Es hätte ewig zuschauen können. Und macht das auch.

Auf dem Heimweg lässt sich das müde Kind ohne Widerrede in den Buggy heben, nach vier Metern schläft es. So verpasst es eine Baustelle (durchschnittliche Verweildauer im wachen Zustand: gefühlte drei Stunden für die Eltern, viel zu kurz für das Kind), ein städtisches Hundeklo mit unglaublich vielen Haufen (im Amtsjargon auch Grünstreifen genannt), 15 dazugehörige Hunde sowie Abermillionen Insekten, die auf und neben dem Gehweg kreuchen und fleuchen.

Die Eltern schreiten glücklich in ihrer früheren Geschwindigkeit voran, sehen den Bus in der Ferne nahen, steigen ein und fahren zurück. Schnell und einfach, ganz entspannt.

Der Rückweg ist fast geschafft, nur noch einige Meter bis nach Hause. Da erwacht das Kind.

"Amei?"

Wie finden Sie die Balance zwischen Entdecken lassen und stressfrei ankommen? Verraten Sie uns Ihre Tipps und Tricks in den Kommentaren unter der Kolumne.

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