Kolumne "Familie und andere Turbulenzen":Bist du aber alt!

Familien-Kolumne

Was Kinder zu diesem Bild sagen würden? Vielleicht: "Papa, ich glaube, du bekommst auch bald so eine Glatze wie Opa."

(Foto: Stephanie Wunderlich)

Kinder und Narren sagen die Wahrheit, nur sind Narren dabei eindeutig charmanter. Kinder hingegen lieben es, hemmungslos direkt auf Falten, Fettröllchen und Wackelfleisch hinzuweisen. Und das mit großem Engagement.

Von Katja Schnitzler

Es macht keinen Spaß, älter zu werden, dachte die Mutter. Sie stand vor dem Badezimmerspiegel und war wehrlos, weil sie noch keinen Morgenkaffee getrunken hatte. Neben ihr hüpfte ihre Tochter fröhlich von einem Bein aufs andere: "Mama, das ist so lustig! Wenn ich von unten an deinen Arm stupse, wackelt das Fleisch hin und her!" Stups, wackel, stups, wackel, stups-stups, wackel-wackel. Die Tochter quietschte, die Mutter seufzte.

Schon kreischte das Kind vergnügt: "Wie lustig, sogar wenn ich nur puste, wackelt dein Armfleisch, guck mal!" Sie pustete, die Mutter stöhnte. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass nur kleine Kinder und Tiere ihre engste Bezugsperson einfach so liebten, wie sie war. Nur dass Tiere dieser Person nicht immer wieder vorhielten, dass sie so war, wie sie war. Der Mutter fiel noch ein anderer Spruch ein, von Narren und Kindern und der Wahrheit, aber sie dachte lieber an ihren Morgenkaffee.

Da selbst junge Eltern, die diesen Namen wirklich verdienen, aus Kindersicht mindestens steinalt sind und das schon immer waren ("Echt, du warst auch mal klein?"), entgeht fast niemand den uncharmanten Beobachtungen: "Kein Wunder, dass du dir nichts mehr merken kannst, Mama! Du bist ja auch schon 30." Die Mutter war sogar noch älter, nämlich 33 - wenn sie sich recht erinnerte.

Leider konnte sie diese Kritik nicht vergessen, denn die Tochter teilte ihre Erkenntnisse hemmungslos und ungefragt: "Meine Mama vergisst alles. Alles!" Das wussten nun auch die Kassiererin im Supermarkt, die Erzieherin und etwa 30 Leute in der U-Bahn. Vielleicht auch 40.

Am härtesten traf es die Großeltern: "Oma, schau, wenn ich die Haut an deiner Hand hochhebe, geht sie gar nicht mehr zurück. Der Hautberg bleibt einfach stehen. Und die Falten gehen auch nicht mehr raus. Schau doch, Oma!" Und Oma schaute. Aber nicht besonders liebevoll.

"Ich zähle deine grauen Haare"

Eltern müssen schon sehr mit sich im Reinen sein, um da entspannt zu bleiben. Und um nicht dem Drang nachzugeben, die lieben Kleinen aufzuklären: Mein Sohn, Haarausfall ist vererbbar und ja, Tochter, wenn du im genetischen Roulette Pech hattest, wirst auch du später das Gesetz der Schwerkraft mithilfe deiner Oberarme erklären können. Und jetzt sei still und genieß deine Jugend.

Nein, so was taten pädagogisch anspruchsvolle Eltern nicht. Also bat die Mutter vor dem nächsten Großfamilientreffen zum Gespräch aufs Sofa. Der Sohn zu ihrer Rechten sah aufnahmebereit aus, die Tochter zu ihrer Linken nicht: Sie starrte der Mutter auf den Kopf und kam näher und näher. "Was machst du da?", fragte die Mutter. "Ich zähle deine grauen Haare", sagte die Tochter, "Aber ich muss immer wieder von vorne anfangen, du hast so viele."

"Jetzt hör doch mal auf, niemand wird gerne alt!", schnauzte die Mutter und ließ sich ins Sofa fallen. Die Tochter fixierte die klaffenden Zwischenräume zwischen den Knopflöchern der mütterlichen Bluse. "Und keiner ist gerne dick!"

"Doch", sagte der Sohn, "fette Leute wären gerne dick. Dann wären sie nur dick, nicht fett." Die Tochter kicherte, die Mutter rieb sich die Stirn und suchte den roten Faden: "Wo war ich ... fetten, also dicken Menschen sagen wir nicht, dass sie dick sind. Und alten Menschen sagen wir nicht, dass sie Falten haben. Das wissen sie selbst und freuen sich nicht darüber. Wenn ihr allen ständig erklärt, was ihr an ihnen seltsam findet, werden sie traurig. Die Oma zum Beispiel."

"Aber die Oma ist doch nicht fett", warf der Sohn entrüstet ein.

"Falten wie die Oma bekommst du erst in einem Jahr"

"Aber Falten hat sie, ganz tiefe. Und wenn ich ihr das sage, werden die Falten noch tiefer! Vor allem zwischen den Augenbrauen", rief die Tochter.

"Wie fändet ihr das denn, wenn euch ständig jemand sagt, dass euer Gesicht voller Falten ist?", machte die Mutter einen neuen Versuch. "Dem würden wir sagen, dass er lügt!", rief der Sohn. "Und man darf nicht lügen!", warf die Tochter ein. Die Mutter vergrub ihr Gesicht im Sofakissen.

Ihr Sohn streichelte ihr tröstend über den Kopf: "Du musst dich nicht verstecken, bei dir sind die Falten ja noch nicht so schlimm."

"Ja, das dauert noch, bis du ausschaust wie Oma. Mindestens ein Jahr!", half ihm die Tochter.

"Tut ihr mir einen Gefallen?", flüsterte die Mutter ins Kissen. "Sagt einfach am Sonntag nichts über Omas Falten."

Am Sonntag waren beide Kinder auf der Fahrt zur Oma noch aufgeregter als sonst. Sobald sich die Haustür öffnete, platzte die Tochter heraus: "Mama hat uns eigentlich verboten, über deine Falten zu reden ..."

"Aber wir hatten so eine gute Idee, damit du nicht mehr traurig bist, weil du so viele hast", sagte der Sohn.

"Bügel sie doch einfach glatt!", rief die Tochter.

Schreiben Sie uns Ihre Erfahrungen und Tipps in den Kommentaren unter der Kolumne.

Auf SZ.de erscheint immer montags die Familienkolumne über das Zusammenleben von Eltern, Kindern und Großeltern, aber auch Tanten und Onkeln, Cousins, Nichten, Neffen - eben allen, die das Familienleben bereichern, erleichtern oder auch ein bisschen komplizierter machen.

Sie können gerne einen Themenvorschlag an die Autorin Katja Schnitzler mailen: Was treibt Sie in Ihrer Familie in den Wahnsinn oder was macht das Leben erst richtig schön?

Und alles zum Thema Erziehung von Babys bis hin zu Jugendlichen finden Sie im Erziehungsratgeber.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: