Kolumbien:Nach dem Krieg kommen die Kinder

Kolumbien: Rückkehr zur Normalität: Seit Frieden herrscht, muss die ehemalige Kämpferin Dejanira keine Waffe mehr tragen - und kann sich auf die bevorstehende Mutterschaft konzentrieren.

Rückkehr zur Normalität: Seit Frieden herrscht, muss die ehemalige Kämpferin Dejanira keine Waffe mehr tragen - und kann sich auf die bevorstehende Mutterschaft konzentrieren.

(Foto: Mario Zamudio)

Bei der Farc in Kolumbien herrschte striktes Nachwuchs-Verbot. Das Friedensabkommen hat nun einen regelrechten Babyboom ausgelöst. Ein Besuch bei werdenden Eltern, die gerade noch Waffen trugen.

Von Boris Herrmann, Bogotá

Wie so viele werdende Mütter ist auch die Kolumbianerin Dejanira Hernández, 31, sehr darum besorgt, dass sich alles in bester Ordnung befindet, bevor es ernst wird. Sie hat die Strampler mit den Bienchen und die Bodys mit den Hunden und Katzen auf getrennte Stapel sortiert, daneben die Söckchen in Blau und die Söckchen in Rosa. Ihren Freund, den werdenden Vater Danilo Urrego, 32, hat sie gebeten, endlich mal ein bisschen auszumisten in dem Zelt, das sie gemeinsam bewohnen. Vor allem die beiden Schusswaffen wollte sie nicht mehr neben dem Bett haben. "Nestbautrieb", sagt Urrego mit einem nachsichtigen Lächeln.

Dejanira Hernández ist im sechsten Monat schwanger. Bei der nächsten Untersuchung erfährt sie vielleicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Wichtig ist für sie derzeit nur: "Es wird im Frieden geboren."

Das Nest, das sich Hernández und Urrego gerade bauen, liegt nur etwa 130 Kilometer südlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. Und doch wirkt es, als befinde es sich in einer anderen Welt. Von Bogotá aus fährt man zwei Stunden mit dem Überlandbus in das Provinzstädtchen Melgar. Dort geht es mit einem Kleintransporter weiter über abenteuerliche Serpentinen in das Bergdorf Icononzo, wo die letzte befestigte Straße endet. Ab hier kommt man nur noch mit Allradantrieb weiter, und das auch nur, wenn es nicht regnet. Ganz am Ende der Reise wartet noch ein schweißtreibender Fußmarsch eine rutschige Matschpiste hinauf, durch ein Bachbett hindurch, über Kuhgatter hinweg. "Bring Gummistiefel mit", hatte Hernández am Telefon gesagt. Guter Tipp.

Etwa an dem Punkt, wo man glaubt, sich endgültig verlaufen zu haben, steht ein Schild mit der Aufschrift "Zona Veredal Transitoria de Normalización Antonio Nariño". An dieser Stelle beginnt eine der 26 offiziellen Entwaffnungszonen der Farc-Guerilla. Etwa 300 ehemalige Kämpferinnen und Kämpfer bereiten sich hier auf das ganz normale Leben vor. In Camps wie diesen sollen sie ihre Waffen und Uniformen niederlegen und sich in ordentliche Staatsbürger verwandeln. Erstaunlich viele haben sich bereits in junge Eltern verwandelt.

In Kolumbien geht gerade ein fünf Jahrzehnte alter Bürgerkrieg zu Ende, der mindestens 250 000 Menschenleben forderte. In dem Konflikt zwischen staatlichen Streitkräften, rechtsextremen Paramilitärs und der marxistisch-leninistischen Farc war nie eine klare Grenze zwischen Opfern und Tätern zu erkennen. Gelitten hat das ganze Land. Vor allem in ländlichen Gegenden wie Icononzo lernten mehrere Generationen von Kolumbianern praktisch nichts anderes als schießen. Dass sie dort jetzt verstärkt wickeln und stillen üben, ist vielleicht das eindrucksvollste Signal einer Zeitenwende.

Auch Dejanira Hernández trug bis vor wenigen Monaten noch eine Waffe am Gürtel. Jetzt trägt sie ein Baby im Bauch. Und darüber ein blaues T-Shirt, auf dem ein Teddy abgebildet ist, der auf einer Mondsichel schläft. Sie sagt: "Ich habe großes Glück: Es ist meine erste Schwangerschaft, und ich darf das Kind gleich behalten."

"Bei der Farc hängen auch die Männer die Wäsche auf"

Ideologisch stehen die Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia, die Farc, zunächst einmal für den Befreiungskampf der entrechteten Kleinbauern. Tatsächlich ist der Landbesitz in Kolumbien bis heute etwa so gerecht verteilt wie in einem mittelalterlichen Ständestaat. Und in dieser patriarchalisch geprägten Gesellschaft sieht sich die Rebellengruppe auch als Speerspitze der Emanzipation. "Bei der Farc hängen auch die Männer die Wäsche auf", sagt Danilo Urrego, und er versucht, es so selbstverständlich wie möglich klingen zu lassen.

Anderseits sind (Optimisten sagen: waren) die Farc eben auch eine streng hierarchisch organisierte Armee. Zu Kriegszeiten war es den angeblich so emanzipierten Guerilleras streng verboten, Kinder zur Welt zu bringen. Hernández erzählt: "Wer sich nicht daran hielt, wurde ausgeschlossen oder musste abtreiben." Sie hat das nie als ungerecht empfunden. Sondern als logisch. "War doch klar, dass man nicht schwanger in den Kampf ziehen kann."

Nach dem Friedensvertrag kam der Babyboom

Gut ein Drittel der knapp 7000 Farc-Mitglieder, die in den vergangenen Wochen ihre Waffen niedergelegt haben, sind Frauen. Fast alle im gebärfähigen Alter. Als vor zwei, drei Jahren die Friedensverhandlungen im kubanischen Havanna Gestalt annahmen, lockerte die Guerilla-Führung das Baby-Verbot. Endgültig hinfällig ist es seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im September 2016. Die Farc haben sich damit formell als Volksarmee aufgelöst, sie wollen ihre Ziele künftig als politische Partei verfolgen. Und es ist, als ob das für viele ihrer Kämpferinnen auch ein Startsignal war für einen lange unterdrückten Wunsch.

Der kolumbianische Friedensbeauftragte Sergio Jaramillo spricht von einem regelrechten Babyboom. Landesweit wurden inzwischen weit über einhundert Nachkriegskinder der Guerilla geboren, allein in der Entwaffnungszone bei Icononzo gibt es zehn Säuglinge und zwölf Schwangere. Der bislang noch kinderlose Gregory, der so etwas wie der Medienbeauftragte des Camps ist, sagt: "Spätestens bis Weihnachten brauchen wir hier einen Kindergarten."

Sie träumen von Normalität

Derzeit gibt es noch nicht einmal genügend Seife und Klopapier für alle Erwachsenen. Geschweige denn sauberes Trinkwasser. Manche der kriegsmüden Kriegerinnen und Krieger tragen noch ihre Tarnuniform, weil sie nichts anderes zum Anziehen haben. Sie führen ein Leben in Gummistiefeln. Alle Notdurft muss im Matsch rund um die Zelte herum verrichtet werden. Das, was Kolumbiens Regierung als "Übergangszone" bezeichnet und als Meilenstein auf dem Weg zum Frieden feiert, sieht aus wie eine Mischung aus einem Flüchtlingscamp und einem kommunistischen Ferienlager. Kein Ort, an dem man ein Kind zur Welt bringen möchte.

Dejanira Hernández und Danilo Urrego haben schon mit dem Gedanken gespielt zu gehen. Nur wohin? Rein theoretisch haben die Entwaffnungszonen seit dem Abschluss des Entwaffnungsprozesses ihren Zweck erfüllt. Rein praktisch werden sie trotzdem weiterbestehen. Fast alle Camper wollen vorerst bleiben. Urrego sagt: "Wir haben keine Ausbildung und kein Geld. Was sollen wir da draußen tun?"

Kolumbien: Dejanira Hernández und ihr Lebensgefährte Danilo Urrego haben sich bei einem Kampfeinsatz ineinander verliebt.

Dejanira Hernández und ihr Lebensgefährte Danilo Urrego haben sich bei einem Kampfeinsatz ineinander verliebt.

(Foto: Mario Zamudio)

Hier drin genießen sie immerhin das gute Gefühl der alten Gemeinschaft und den Schutz von UN-Truppen. Offiziell herrscht jetzt Frieden in Kolumbien, tatsächlich existiert der bislang vor allem auf dem Papier. Als sich Teile der Farc in den 80er-Jahren schon einmal entwaffneten, wurden sie von ihren Kriegsgegnern, den rechten paramilitärischen Milizen, systematisch gejagt und ermordet. Es gibt gute Gründe, sich heute vor einem ähnlichen Szenario zu fürchten.

Urrego käme sich deswegen halb nackt vor, wenn er demnächst unbewaffnet das Camp verlassen müsste. Ausgerechnet jetzt, da er eine Kleinfamilie zu beschützen hat: "Ich habe über die Jahre gelernt, mein Gewehr zu lieben, denn es ist der einzige Grund, weshalb ich noch am Leben bin." Und noch etwas spricht aus seiner Sicht für dieses Zeltlager: Die Farc, behauptet Urrego, sei eine "sehr kinderliebe" Organisation.

Es gibt zumindest Anzeichen, dass in Sachen Kinderliebe gerade einiges nachgeholt wird. Man erkennt in diesem Camp schon an der Art der Zelte, wo die Familien mit den Babys wohnen. Sie haben das Recht auf einen Boden aus Holzbrettern. Die Kinderlosen, dazu gehören auch die Schwangeren, leben weiterhin auf dem nackten Erdreich.

Hernández und Urrego teilen sich eine Behausung, die aus Holzstangen besteht, über die ein paar Plastikplanen gespannt wurden. "An sich kein Problem", sagt Hernández. Sie hat weit mehr als ihr halbes Leben lang in solchen Zelten gewohnt. Aber jetzt, da der Geburtstermin näher rückt, spürt sie plötzlich ein Bedürfnis, für das sie noch kein passendes Wort gefunden hat. Sie will weiß Gott nicht "das typische Spießerleber eines Großstädters" führen. Diesen ganzen Konsumwahnsinn lehnt sie ab, "denn sonst hätte ich ja all die Jahre umsonst gekämpft". Sie träumt weder von einem luxuriösen Haus noch von einem großen Auto oder einem Familienhund. Aber eine halbwegs vernünftige Schule für ihr Kind, eine Krankenversicherung, fließendes Wasser und ein kleines bisschen Privatsphäre, das fände sie schon schön. Auf der Suche nach dem passenden Wort sitzt sie für eine Weile still auf ihrem Feldbett. Schließlich sagt sie: "Vielleicht ist es so etwas wie Normalität."

Man kann nicht sagen, dass sie ein normales Leben aufgegeben hätte, als sie sich der Farc anschloss. Elf Jahre war sie damals alt. Ein Leben im Frieden hatte sie nie kennengelernt. Hernández wuchs im Department Meta auf, in einer Gegend, in der es vor mordenden Paramilizen und Guerillakommandos nur so wimmelte. Ihr Vater war schon verschwunden, als sie zur Welt kam. Ihre Mutter schuftete als Hausmädchen auf der Finca eines Großgrundbesitzers. Sie selbst ging in der Stadt Puerto Gaitán zur Schule und wohnte bei einer Tante. Am Wochenende kam die Mama zu Besuch.

Wie viele Menschen Dejanira getötet hat, weiß sie nicht

Dejanira Hernández erinnert sich noch an das Datum ihrer Flucht aus diesem Leben. Ihre Mutter suchte sie, die elfjährige Tochter, an diesem Tag vergeblich in Puerto Gaitán. Es war Sonntag, der 11. Mai 1997. Ein Muttertag.

Hernández sagt, sie habe damals von Politik noch keine Ahnung gehabt. Sie wollte einfach wissen, wie das ist, eine Guerillera zu sein. Ihr großer Bruder war auch schon der Farc beigetreten. Anfangs hieß es, sie müsse wieder nach Hause gehen, weil sie zu jung sei. Die Farc, erzählt Hernández, habe offiziell nur Leute zwischen 15 und 35 Jahren aufgenommen. Aber im Grunde seien sie dort für jede Verstärkung dankbar gewesen. Sie hat ein bisschen gebettelt - und durfte bleiben. Bloque Oriental, Front 39. Hernández behauptet, dass sie diesen Schritt keine Sekunde lang bereut habe. "Für mich war das eine sehr schöne Erfahrung, diese zwanzig Jahre. Ich habe in der Guerilla gelernt zu teilen, zu lieben. Und wie es ist, eine Familie zu haben."

Zunächst einmal musste sie lernen, zu marschieren und mit Sturmgewehren, Handgranaten und Landminen umzugehen. Wie viele Menschen sie in diesen zwanzig Jahren getötet hat, das weiß sie nicht. Sagt sie. "Im Krieg fliegen Kugeln. Da verliert man die Übersicht."

Mit dem Compañero Danilo Urrego ist sie seit vier Jahren zusammen. Die beiden haben sich auf einer Mission kennengelernt. Sie wurden eingekesselt, von kolumbianischen Luftstreitkräften bombardiert.

Sie haben beide überlebt. Und die gemeinsame Erfahrung schweißt zusammen. Im Krieg, sagt Urrego, denke man nur an den Moment. "Im Frieden muss man sich um die Zukunft kümmern." Er will Journalist werden, um künftig seine Familie zu ernähren. Auf eine der geplanten staatlichen Ausbildungshilfen kann er vermutlich lange warten, aber in einem Gemeinschaftszelt der Entwaffnungszone gibt es immerhin eine kleine, autonome Farc-Uni. Dort werden auch Schreibkurse angeboten. Bei einem Kriegseinsatz hat Urrego seinen rechten Arm verloren. Danach lernte er, mit links zu schreiben und zu schießen. Deshalb glaubt er, dass es auch möglich sein muss, mit einem Arm ein Baby zu wickeln. Er wird ein liebevoller Vater sein, ist sich Hernández sicher. Urrego, ein Mann mit feinem Humor, entgegnet: "Was meinst du, Schatz, soll ich dem kleinen Ding in deinem Bauch mal ein bisschen aus dem Friedensvertrag vorlesen?"

Am frühen Abend, nach dem täglichen Platzregen, treffen sich die beiden mit ihrem Compañero Heronimo Gutiérrez, 41, aus dem Nachbarzelt. Er hat 28 Jahre im Bürgerkrieg gekämpft, seit neun Monaten ist er stolzer Vater der kleinen Alix Beatriz. Gutiérrez hat ein T-Shirt mit dem Bild seiner Tochter an, darüber steht "Feliz Papito", glücklicher Papi. In einem Laufwägelchen, das eine UN-Organisation gespendet hat, macht Alix Beatriz gerade die ersten Schritte. Wenn sie auf den roten Plastikknopf drückt, ertönt "Old Mc Donald had a Farm". Dejanira Hernández schaut der Kleinen eine Weile zu. Dann sagt sie: "Diese Kinder sind doch der Beweis, dass wir es mit dem Frieden ernst meinen. Niemand will sein Baby im Krieg großziehen."

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