Süddeutsche Zeitung

Kollektives Tagebuch:"Ich habe kein eigenes Leben mehr"

Bettina Fendt ist Mutter einer behinderten Tochter - und wurde in der Corona-Krise zur Lehrerin, Pflegerin, Physiotherapeutin und Freundin.

Interview von Hannah Beitzer

Viele Eltern verzweifeln in der Corona-Krise an der Doppelbelastung aus Arbeit und Kinderbetreuung. Bettina Fendt, 54 Jahre, steht vor noch größeren Herausforderungen. Ihre 17-jährige Tochter Lilith ist schwer körperbehindert. Die Mutter ersetzt ihr nun Lehrer, Pfleger, Physiotherapeuten und Freunde. Die Geschichte von Bettina Fendt hat die SZ über diese Umfrage erreicht, in der auch Sie Ihre Gedanken und Erlebnisse teilen können. Im kollektiven Tagebuch der Corona-Krise veröffentlicht die SZ seit Beginn der Ausgangsbeschränkungen immer wieder Zuschriften, Videos und Sprachnachrichten von Leserinnen und Lesern.

SZ: Frau Fendt, wie hat die Corona-Pandemie Ihr Leben verändert?

Fendt: Meine Tochter Lilith ist schwer körperbehindert. Normalerweise geht sie tagsüber auf eine inklusive Schule. Nun betreue ich sie zu Hause. Sie kann selbständig weder sitzen, laufen, sprechen, essen oder auch nur den Kopf halten. Kognitiv ist sie fit, sie kann rechnen, schreiben und lesen. Sie saugt Wissen auf wie ein Schwamm und geht sehr gerne in die Schule. Außerdem bekommt sie dort Ergotherapie und logopädische Hilfe, geht schwimmen und wird allgemein bewegt. Nun bin ich ihre Lehrerin, Pflegerin, Ergotherapeutin und Logopädin.

SZ: Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Fendt: Momentan schläft Lilith oft bis zehn. Ich stehe früher auf, mache den Haushalt, trinke vielleicht mal einen Tee, wenn es gut läuft, bleiben zwanzig Minuten Zeit für Yoga. Dann bereite ich das Frühstück vor, esse mit Lilith und unterrichte sie. Die Kommunikation mit ihr ist aufwendig, weil sie ihren Talker nicht selbst ansteuern kann. Ein Gespräch, das zehn Minuten dauern würde, dauert mit ihr eine Dreiviertelstunde. Bis wir fertig sind, ist es 14 oder 15 Uhr. Ich muss sie dann noch bewegen und massieren, wir machen Übungen auf speziellen Geräten. Sie hat auch einen Stehständer, in dem sie eine gewisse Zeit am Tag stehen muss. Nebenbei mache ich noch den Haushalt, gehe einkaufen, koche für die Familie. Das dauert bis zehn, halb elf. Danach will ich nur noch ins Bett.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

SZ: Wie geht es Ihnen damit?

Fendt: In manchen Momenten ist die Verzweiflung riesig. Mein Mann und meine drei großen Kinder können mir kaum helfen, Lilith zu betreuen. Mein Mann arbeitet den ganzen Tag im Home-Office und Liliths Geschwister bereiten sich auf das Abitur oder Prüfungen für das Studium vor. Also bin ich meistens alleine. Die Betreuung eines so schwer gehandicapten Menschen ist zum einen körperlich sehr anstrengend: Lilith den ganzen Tag vom Rollstuhl auf die Couch, auf den Boden, auf die Toilette und ins Bett zu heben. Es gibt Tage, an denen ich aufwache und so erschöpft bin, als hätte ich den Tag schon hinter mir. Dazu kommt: Ich habe kein eigenes Leben mehr. Eigentlich wollte ich im Herbst die Prüfung zur Heilpraktikerin machen, nach vielen Jahren zu Hause wieder einer Arbeit jenseits der Familie nachgehen. Das kann ich jetzt vergessen.

SZ: Und wie geht es Ihrer Tochter?

Fendt: Auch für Lilith ist es nicht leicht. Sie geht sehr gern in die Schule, ihr fehlen ihre Freunde. Das kann ich ihr nicht ersetzen. Es ist für sie schwer, Kontakt zu halten, weil sie ja nicht wie andere Jugendliche einfach ein Handy bedienen kann. Das muss alles ich mit ihr machen. Sie wird auch weniger bewegt als sonst, hat deswegen Schmerzen.

SZ: Was würde Ihnen in Ihrer Situation helfen?

Fendt: Gerade kommt nur die Physiotherapeutin ein- bis zweimal die Woche zu uns, natürlich unter strengen Hygienevorschriften. Ab nächster Woche soll zweimal die Woche jemand kommen, der einige Stunden Unterricht mit ihr macht. Das ist schon wertvoll. Aber natürlich würde es mir helfen, wenn die Schule bald wieder in irgendeiner Form öffnen würde, wenn es überhaupt mehr Hilfe für Familien wie unsere geben würde.

SZ: Eltern kommen in der Corona-Krise oft zu Wort, jedoch selten die behinderter Kinder. Würde es helfen, sich mit anderen Eltern zu vernetzen, um die eigene Situation mehr ins Zentrum der Debatte zu rücken?

Fendt: Ganz ehrlich: Ich habe keine Zeit, mich um Nachrichten oder politische Debatten zu kümmern, mich mit anderen Eltern zu vernetzen. Ich glaube, so geht es vielen Eltern behinderter Kinder. Gleichzeitig finde ich es so wichtig, dass wir zu Wort kommen. Mir ist es auch wichtig zu sagen: Vielen geht es weit schlechter als mir. Wir haben ein Haus, einen Garten, zudem ist Lilith wissbegierig und einsichtig. Andere Mütter sitzen allein mit ihren Kindern in einer kleinen Wohnung, die Kinder verstehen überhaupt nicht, was vor sich geht und sind kaum zu bändigen.

SZ: In der Corona-Krise wird noch sichtbarer als sonst, dass die unbezahlte Sorgearbeit, die in den Familien anfällt, vor allem an den Frauen hängen bleibt. Warum ist das so?

Fendt: Generell scheint mir, dass Männer weniger ein Problem damit haben, sich Zeit jenseits der Familie zu nehmen - sei es für die Arbeit oder für Sport. Ihnen fehlt oft die Selbstaufgabe, die Mütter in der Beziehung zu ihren Kindern zeigen. Mein Mann zum Beispiel hat viel weniger als ich ein Problem damit, eine halbe Stunde joggen zu gehen. Mir macht jede Minute, die ich nicht mit Lilith verbringe, ein schlechtes Gewissen. Wenn ich einkaufen gehe oder koche, liegt sie vor dem Fernseher oder hört ein Hörspiel. Etwas anderes kann sie nicht alleine. Wenn ich nicht für sie da bin, habe ich das Gefühl: Ich nehme ihr ihr Leben weg.

Das kollektive Tagebuch der SZ zur Corona-Krise aktualisieren wir stetig mit neuen Beiträgen auf dieser Projektseite: Hier finden Sie Geschichten, Sprachnachrichten und Videos von anderen und können auch selbst teilnehmen:

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