Kohlebau:Das Geisterdorf

Alle sollen gerade daheimbleiben. Doch es gibt ein Dorf zwischen Köln und Aachen, das für niemanden mehr ein Zuhause ist. Aber ist ein Dorf ohne Menschen überhaupt noch ein Dorf?

Von Katja Garmasch

Unglaublich, dass da noch Luft drin ist! Vorsichtig hebt Till einen vergilbten Football aus dem feuchten Gras. Vor Jahren hat er ihn aus Versehen auf den Baum im Garten geworfen und nicht mehr runter bekommen. Jetzt hält er ihn ungläubig in den Händen, ein moosiger Schatz aus einer anderen Zeit.

Vier Jahre ist es her, dass Till, 14, das letzte Mal in diesem Garten gespielt hat. Dann haben er, seine Eltern, Brüder, Großeltern und fast alle anderen Dorfbewohner den Ort verlassen. Seitdem ist Morschenich eine Art Geisterdorf: Die Häuser stehen leer, die Gärten sind zugewuchert, die Kneipen geschlossen, die Fenster mit Holz verrammelt, die Kirche wurde entweiht. Alle wohnen jetzt fünf Kilometer weiter, in Neu-Morschenich. Ein ganzes Dorf ist einfach umgezogen.

Dass es einmal so kommen würde, wussten die Bewohner schon lange. Seit über 50 Jahren war klar, dass Morschenich nicht für immer ihre Heimat bleiben kann. In der Erde unter dem Dorf gibt es nämlich Braunkohle, die rausgebuddelt werden soll. Geplant war, dass Bagger das Dorf plattmachen, damit die Kohle gefördert werden kann. Der Garten, in dem Till nun steht, sollte eigentlich längst weg sein. Aber Morschenich wurde verschont. Wegen der Umweltschützer und Aktivisten, die sich im letzten Sommer für den Erhalt des Hambacher Forsts eingesetzt haben. "Hambi" liegt direkt neben Morschenich - und nun steht beides noch. Aber ist ein Dorf ohne Menschen überhaupt noch ein Dorf?

Kohlebau: Moosiger Schatz: Als Till diesen Ball einst in einem Baum versenkte, dachte er nicht, dass er ihn noch mal in den Händen halten würde.

Moosiger Schatz: Als Till diesen Ball einst in einem Baum versenkte, dachte er nicht, dass er ihn noch mal in den Händen halten würde.

(Foto: Katja Garmasch)

Die Häuser in Morschenich sind marode, die Straßen leer, die Kanalisation wurde seit Jahrzehnten nicht repariert - alle wussten ja von dem Umzug. Früher haben Till und seine Cousine Maya (9) oft im Haus der Großeltern gespielt. Jetzt steht es offen, die Zimmer leer, die Fenster rausgeschlagen. Efeu rankt an den Wänden empor. Dachrinnen, Rohre, Kabel und die Satellitenschüssel wurden von Plünderern mitgenommen. Nur der Magnolienbaum davor blüht genauso prächtig wie immer. Ganz so, als ob noch Bewunderer da wären. Eine Hecke im Garten war früher Mayas Lieblingsort. Da versteckte sie sich beim Spielen vor ihrem Cousin Till oder träumte einfach vor sich hin.

In Neu-Morschenich gibt es solche Geheimverstecke nicht. Statt Bäumen und Hecken umrahmen Zäune aus Metall und ein paar frisch gepflanzte Baby-Tannen die Grundstücke, die Vorgärten sind mit Kies aufgeschüttet.

Kohlebau: Die Fensterdeko hat Tills Mutter im alten Haus der Familie hängen lassen.

Die Fensterdeko hat Tills Mutter im alten Haus der Familie hängen lassen.

(Foto: Katja Garmasch)

Wenn Maya und Till etwas von Morschenich fehlt, dann die Natur. Und die Rehe, die man in Alt-Morschenich oft sieht. In Neu-Morschenich hat Maya nur mal ein Kaninchen gesehen.

Trotzdem fand Maya es nicht schlimm wegzuziehen, schließlich wussten die Kinder und Eltern von Morschenich das schon immer. Über Jahre hinweg haben sie andere Dörfer und den Wald um sich herum dem Tagebau weichen sehen.

Eine Handvoll Menschen lebt aber noch in Morschenich. In Mayas altes Haus zum Beispiel ist eine geflüchtete Familie aus dem Irak eingezogen, die Kinder gehen mit Maya zusammen zur Schule. Auch ein paar alte Bewohner harren im Dorf aus. Sie hoffen, dass ihre Häuser stehen bleiben können. Vor Corona haben außerdem etwa ein Dutzend Aktivisten dort campiert. Es ist schön, dass sie dafür gesorgt haben, dass der Wald noch steht. Aber manche laufen maskiert herum, besprühen Häuser und sind mit dem Auto über den Sportplatz gefahren. Das finden Till und Maya nicht so toll. Auf dem Fußballplatz hat Till früher viel Zeit verbracht. Genauso wie an der Grenze zum Tagebau. Da sind die Kinder ab und zu hingefahren, um den Riesenbaggern bei der Arbeit zuzuschauen.

Nun steht Till vor seinem alten Haus, das zwischen all dem Grün märchenhaft wirkt. Die Gardinen und die Holzherzchen an den Fensterrahmen hat seine Mutter drin gelassen, damit es nicht so traurig aussieht. Als Till durch die Scheiben linst, wird er trotzdem ein bisschen traurig. Sein neues Haus ist zwar moderner und sein Zimmer größer. All seine Freunde, Nachbarn und Vereine sind mit umgezogen. Aber viele Erinnerungen sind eben immer noch in Morschenich.

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