Körperliche Intimität als vermeintlicher Zwang:"Sexsucht ist ein Modewort"

Jack Nicholson, Michael Douglas, David Duchovny und Tiger Woods sollen darunter leiden: Die Sexsucht grassiert - aber längst nicht mehr nur in Hollywood. Der Sexualwissenschaftler Kurt Starke über zwanghaftes Begehren, allgemeine Entsinnlichung, das Liebesleben und den durchschnittlichen Koitus.

Titus Arnu

Die derzeit schickste Krankheit der Welt heißt Sexsucht. Hollywoodstars wie Jack Nicholson, Michael Douglas und David Duchovny haben sich wegen Sexsucht behandeln lassen, genauso der Golf-Profi Tiger Woods. Selbsthilfegruppen wie die Anonymen Sexaholiker verzeichnen regen Zulauf. Auf der anderen Seite scheitern viele ganz normale Partnerschaften an Lustlosigkeit. Wie passt das zusammen? Und wie viel Sex ist normal? Ein Gespräch mit dem Leipziger Sexualforscher Kurt Starke, 73, der Zehntausende Deutsche zu Partnerbeziehungen und Sexleben befragt hat. Zu DDR-Zeiten war er Forschungsleiter am Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, das 1990 liquidiert wurde, und später selbständiger Forscher.

BASIC INSTINCT

Auch auf der Leinwand wurde zwanghaftes Begehren schon thematisiert - so etwa im Erotikthriller Basic Instinct: Der Polizist Nick Curran (Michael Douglas) lässt sich in dem Kinostreifen von 1992 wider besseren Wissens auf eine Affäre mit einer Mordverdächtigen (Sharon Stone) ein.

(Foto: OBS)

SZ: Herr Starke, man könnte den Eindruck haben, Sexsucht sei eine neue Volkskrankheit. Gibt es denn überhaupt wissenschaftlich haltbare Erkenntnisse über die Zahl der Sexsüchtigen?

Starke: Nein. Ich habe viele empirische Studien durchgeführt und Zehntausende Menschen zu ihrem Sexualverhalten befragt. Es gibt da erstaunliche Dinge zu berichten. Aber eine Sexsucht kann man nicht so leicht diagnostizieren, das ist meiner Meinung nach ein inflationär gebrauchtes Modewort. Man müsste erst mal definieren, was genau das für eine Sucht sein soll.

SZ: Ist Sexsucht gar eine Erfindung?

Starke: Es ist eine Metapher, aber eine Metapher ohne große Substanz. Wenn es ein sexuelles Suchtverhalten gäbe, würde die Natur ziemlich schnell Grenzen setzen. Zwanghafte Masturbation? Irgendwann geht das nicht mehr.

SZ: Wenn aber ein Mensch zwanghaft Sex haben muss, ist er dann nicht süchtig?

Starke: Ich bin kein Psychiater und kein Suchtforscher, ich bin Sexualforscher. Und ich kann bestätigen, dass es einige extreme sexuelle Verhaltensweisen gibt - Leute, die Statuen lieben oder Fetischisten zum Beispiel. Das sind sexuelle Besonderheiten, vielleicht auch Störungen. Aber keine Süchte. Bei einer sexuellen Unersättlichkeit hat man früher von Donjuanismus gesprochen und später von Hypersexualität.

SZ: Es gibt also doch Menschen, die ein übersteigertes sexuelles Verlangen haben?

Starke: Ja, es gibt Menschen, die ein sehr viel höheres sexuelles Verlangen haben als andere. Aber wenn man etwas gerne und oft tut, muss das nicht krankhaft sein. Wenn ein Mensch einen anderen Menschen stark begehrt - warum muss man das überhaupt im Zaum halten? Verliebtheit, Begehren und Sexualität sind unordentlich. Das lässt sich nicht komplett kontrollieren.

SZ: Aber wenn ein Star wie Tiger Woods zwölf Geliebte in zwölf Monaten hat und das dann auch noch öffentlich beichtet, ist das nicht zu viel des Guten?

Starke: Der ganze Promikult ist krankhaft, und nichts ist gut an solchen wirksam inszenierten sexuellen Beichten. Das hat etwas zu tun mit Macht, mit den Gelegenheiten, die solche Leute haben. Und diese Outing-Kultur entintimisiert die Sexualität. Sexualität geht eigentlich niemanden etwas an.

Pathologisierung der Sexualität

SZ: Britische Kliniken verzeichnen einen Ansturm von Patienten, die sich wegen Sexsucht behandeln lassen wollen, Therapeuten sprechen bereits vom Tiger-Woods-Effekt . . .

Starke: Das hängt vielleicht damit zusammen, dass die Gesellschaft zu einer gewissen Pathologisierung neigt, auch von Sexualität. Dahinter steckt die Annahme, man könne eine Pille einwerfen, dann verschwinden die Probleme. Das ist aber meiner Meinung nach Unsinn.

SZ:Es gibt Fälle, bei denen sich Menschen durch Telefonsex oder Sex-Chats im Internet hoch verschulden.

Starke: Das stimmt, es gibt Menschen, die sich Tausende Sexfilme am Computer anschauen oder jeden Tag Telefonsexnummern anrufen. Aber es ist eher eine Gewohnheit, eine Ablenkung und weniger ein zwanghaftes Sexverhalten.

SZ: Wo hört der Spaß auf, wo fängt das zwanghafte Verhalten an?

Starke: Das ist eine ewige Diskussion, sowohl in der Fachwelt als auch im privaten Bereich. Psychiater und Psychologen wissen um Computerfreaks, die ihr Alltagsleben nicht mehr bewältigen können, die schwere Beziehungsprobleme haben und die sich sexuell problematisch verhalten.

SZ: Anders gefragt: Wie viel Sex ist normal? Zweimal die Woche, wie schon Martin Luther empfahl?

Starke: Statistisch gesehen ist eine solche durchschnittliche Koitusfähigkeit nach wie vor normal. Aber mit Quantitäten kommt man bei dieser Frage nicht weit. Ich habe das ja eingehend erforscht, und es gibt da keinen Standard, keine Faustregel.

"Klaffen die Wünsche auseinander, kann das leidvoll werden"

SZ: Wie können Paare damit umgehen, wenn einer der Partner ein viel größeres Sexbedürfnis hat als der andere?

Starke: Der Fachbegriff dafür ist sexuelle Diskordanz, und das ist der Regelfall, nicht die problematische Ausnahme. Die Ausnahme ist vielmehr das Wunder, dass beide im gleichen Moment das gleiche sexuelle Verlangen und auch die Gelegenheit haben, ihm nachzukommen. Klaffen die Wünsche aber zu sehr auseinander, kann das Missverhältnis extrem leidvoll werden. Die meisten Paare finden aber einen Modus.

SZ: Wie denn?

Starke: Manche Paare vereinbaren eine bürokratische Lösung: Jeden Donnerstagabend gehen wir miteinander ins Bett, oder jeden zweiten Samstagmorgen bleiben wir miteinander im Bett.

SZ: Sex als Pflicht? Ist das denn nicht die Bankrotterklärung einer Beziehung?

Starke: Ja, das wäre sie, obgleich immer noch drei bis acht Prozent der Frauen in Deutschland die Sexualität ganz oder teilweise als Pflicht betrachten.

SZ: Von Hypersexualität kann also in den meisten deutschen Ehebetten kaum die Rede sein, oder?

Starke: Manche fragen sich nach all den gemeinsamen Jahren: Warum sollen wir überhaupt noch miteinander diese Gymnastik betreiben? Auf der anderen Seite spüren sie, dass sexuelle Aktionen auch im Alter das Wohlbefinden befördern können. Nicht alles schwindet. Meine Untersuchungen zeigen zum Beispiel, dass Frauen in Langzeitbeziehungen leichter und häufiger zum Orgasmus kommen als junge Single-Frauen.

SZ: Ist der Wunsch nach schneller, häufiger Lusterfüllung ein Phänomen unserer Konsumgesellschaft?

Starke: Unsere Gesellschaft ist ausgerichtet auf die Erfüllung von Wünschen, auch auf solche, die man gar nicht hat. Das kann zu einem Problem werden, auch sexuell. Es gibt eine heuchlerische Präsenz von Sex in der Öffentlichkeit. Diese Schein-Sinnlichkeit führt zu einer Entsinnlichung unseres Lebens.

SZ: Neben der Sexsucht sind sexuelles Versagen und Lustlosigkeit die häufigsten Sexthemen. Ist das nicht paradox?

Starke: Die einen arbeiten so viel, dass sie keine Muse fürs Küssen und Kosen finden, die anderen haben keine Arbeit, hätten also genug Zeit, aber sind infolge ihrer Situation so niedergedrückt, dass ihnen die Lebens- und Liebeslust abhandenkommt. Manche junge Männer haben so viele Berührungs-, Prestige- und Versagensängste, dass sie lieber auf Sex verzichten, und eine frühzeitige Partnerbindung oder gar eine Familiengründung erscheint ihnen auch nicht besonders sinnvoll. Den fröhlichen Single, der ein buntes Sexualleben hat, den gibt es, aber er ist extrem selten, und mancher 60-Jährige hat, weil er eine gute Beziehung führt, mehr Orgasmen als ein partnerloser 30-Jähriger. Ein allgemeiner Niedergang des heterosexuellen Koitus ist aber dennoch nicht eingetreten. Es wird heute nicht weniger koitiert als vor 20 oder 40 Jahren.

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