Harry G. ist Kabarettist und Sprücheklopfer, dessen Wirkungskreis begrenzt ist, aber mit diesem kurzen Video bewies er psychologisches Einfühlungsvermögen und perfektes Timing. Das war im Winter vor einem Jahr, als sich Harry G. als Münchner Kitzbühel-Enthusiast inszenierte - einer jener Neureichen mit Eigenheim, Rolex-Sammlung und dem neuesten Mercedes-Geländewagen. Als er im Radio die Nachricht vom Ende des Lockdowns und von der Öffnung der Tiroler Grenzen hört, knallen bei ihm sofort die Korken. Mit dem Schlachtruf "Wie geil ist das denn?" braust Harry G. los Richtung Süden, über die Autobahn bis zum Ortsschild Kitzbühel. "Seid ihr schon drin?", schreit er ins Handy. "Ich fahr gleich rein, der Maximilian fährt auch heut rein, der Konstantin ist schon drin, der Leopold fährt morgen rein ..."
Natürlich ist dieses Video hochgradig albern, aber auch absolut angemessen: Kitzbühel ist eben ein Lebensgefühl. Und als solches gehört es nicht einfach nur zu Tirol, sondern ist fest in der Hand der Zugereisten. Ehemalige Fußballlegenden, Schauspielerinnen, Schlagersänger, Social-Media-Figuren, Ex-Formel-1-Piloten, österreichische Nationalhelden mit kalifornischem Akzent und sagenhaft wohlhabende Chalet-Besitzer bestimmen das Bild, das man sich von diesem viel zu teuren Ort macht. Eine Wohnung mit Blick auf den Hahnenkamm kostet aktuell 21 000 Euro pro Quadratmeter, die Sieben-Tage-Inzidenz in der Gemeinde lag zuletzt bei über tausend, auch das ist österreichischer Rekord - in Kitzbühel geht man halt gerne aufs Ganze, man spielt nicht in der Magnum-Champagner-Klasse, sondern im oberen Nebukadnezar-Bereich.

Start in die Skisaison:Ischgl ist wieder da
Ganz Österreich ist noch im Lockdown. Doch der einstige Corona-Hotspot Ischgl hat trotzdem sein Skigebiet erstmals seit 21 Monaten wieder geöffnet - mit Soft Opening und ohne Après-Ski. Ist das der Beginn eines Umdenkens?
Mit dem Gaudiburschentum kann man viel Geld verdienen
Von Harry G.s Kitzbühel-Video zur neuen Netflix-Serie "Kitz" ist es gedanklich nur ein kleiner Schritt. Auch in dem Sechsteiler triumphieren die hedonistischen Geldscheißer mit Nummernschild M-KB, die hier auf hinterwäldlerische Einheimische treffen. Der Kulturclash zwischen Luxusgören und "Dorfis", zwischen Suite und Kuhstall, ist allerdings wenig glaubwürdig, zumal alle ein serienkompatibles Hochdeutsch sprechen - und wären die indigenen Tiroler wirklich so treuherzig wie in dieser Serie, dann wäre Kitzbühel noch ein unscheinbares, bescheidenes Nest. In Wahrheit aber spielen die Bewohner ihren Part seit Jahrzehnten brav mit, weil man mit dem Kitzbühel-Hype und einem zur Schau gestellten Gaudiburschentum enorm viel Geld verdienen kann.

"Kitz" schlägt beim Publikum jedenfalls ordentlich ein, zu Jahresbeginn lag die Serie bei den Zuschauern in Deutschland und Österreich weit oben in den Top-Ten der Netflix-Charts. Eigentlich erstaunlich angesichts eines sehr kruden Drehbuches: Die verwöhnte Münchner Influencerin Vanessa trifft auf ihre Rächerin Lisi, die noch immer um ihren verstorbenen Bruder trauert. Die schöne Scheinwelt zwischen Spa und Skipiste sieht aus wie aus der Hochglanzwerbung, die Dialoge sind so weichgespült, dass man sich sofort einen Filmemacher David Schalko herbeiwünscht - denn Kitzbühel hätte durchaus mal eine bitterböse Satire verdient. Aber eine, in der nicht nur ein eitles Partygirl zu Fall kommt, sondern die wahren Profiteure der Totalvermarktung und Kommerzialisierung.
Okay, in "Kitz" gibt es auch ein paar wenige lustige Szenen. Etwa als der sehr schnöselige schwule Hotelerbe seinem Liebhaber im Kuhstall spontan dabei helfen muss, ein Kalb auf die Welt zu holen, und dann herrlich deppert den Satz sagt: "Ich hab Plazenta auf meinen Louboutins." Von solchen Sätzen hätte man sich mehr gewünscht; mehr Wahnsinn und weniger Weinerlichkeit, um dem pompösen Serienanspruch, das "Aspen der Alpen" zu zeigen, halbwegs gerecht zu werden. So ist es eine Soap geworden, in der es viele infantile Szenen gibt, aber wenig echte Dekadenz.
Ob Kitzbühel je wieder Kitzbühel sein wird?
Im richtigen Leben bangen sie gerade wieder, weil die Pandemie den Terminkalender in Kitzbühel durcheinanderbringt: Ob das Hahnenkamm-Rennen am 22. Januar wie gewohnt vor großem Publikum stattfinden kann oder nur mit einer kleinen Elite auf den VIP-Rängen? Ob Kitzbühel wieder Kitzbühel sein wird, der Ort mit der steilsten Rennpiste und dem Hang zur Selbstüberschätzung, Nebukadnezars Winterwunderland? Na ja, wer das richtige Chalet mit Aussicht hat, braucht sich darum wohl nicht zu sorgen.

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Bis es endlich wieder losgeht auf der Streif, können alle Teilzeit-Models auf Instagram unter #kitzbühel weiter mit ihren glitzernden Skianzügen, Fellkapuzen, Champagnerflaschen und Babys in total drolligen High-Fashion-Flauschanzügen in Rosi's Sonnbergstuben oder auf der Terrasse des Sonnbühel posieren. Dazu braucht es keine Vanessa aus der Serie, das schaffen die echten Kitz-Menschen selbst viel besser.
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